Anti-Ausländerhaß-Demonstration in Rostock
: "Was wissen die Linken schon von uns"

■ "Heute keine Gewalt" lautete der Konsens am Samstag in Rostock-Lichtenhagen - und 15.000 Demonstranten, die trotz schwerer Behinderungen der Polizei...

„Was wissen die Linken schon von uns“ „Heute keine Gewalt“ lautete der Konsens am Samstag in Rostock-Lichtenhagen — und 15.000 Demonstranten, die trotz schwerer Behinderungen der Polizei gekommen waren, hielten sich daran.

Heute wird Inga zum ersten Mal seit einer Woche wieder pünktlich nach Hause kommen. Bis elf Uhr abends erlauben die Eltern den Ausgang ihrer 16jährigen Tochter; vor ein Uhr nachts lag die Auszubildende — Inga möchte Zahnarzthelferin werden — aber nie im Bett. Den ganzen Nachmittag über hat sich Inga die „Linken“ angeguckt, die durch die Lichtenhagener Straßen zogen. Um 21 Uhr verschwindet der letzte Bus vom Lichtenhagener Großparkplatz. Inga möchte, daß jetzt endlich alles vorbei ist, daß wieder Ruhe einkehrt im Neubauviertel, in dem sie aufwuchs. Gott sei Dank gab es heute keine Keilerei, „doof“ fand sie die Demo trotzdem. „Schämt euch!“ haben die Antifas immer wieder skandiert. Wer sich auf dem Balkon zeigte, mußte mitunter Leuchtspurmunition ausweichen. „Die kennen die doch gar nicht!“ schimpft Inga, „was wissen die Linken schon von uns.“ „Mit den Ausländern“, erklärt die Norddeutsche, hätten die Krawalle in der vergangenen Woche doch „gar nix mehr zu tun“ gehabt, „das ging doch nur noch gegen die Bullen“.

Um 13 Uhr sollte die Demo beginnen, erst vier Stunden später setzten sich die über 15.000 Menschen in Bewegung. Viele Busse und PKWs wurden auf dem Weg nach Rostock festgehalten, die Insassen gefilzt, die Konvois eingekesselt. Erst als alle da sind, geht es los. Etwa die Hälfte der Teilnehmer sind Autonome, zu Ausschreitungen kommt es trotzdem nur vereinzelt. Man wolle heute seinem politischen Protest Ausdruck verleihen. Es sei aber kein Tag, „Emotionen auszutragen“, wird immer wieder von den Veranstaltern über Lautsprecher bekanntgegeben. Manchmal wird die Megaphonstimme sehr deutlich: „Wer Alkohol tankt oder mit Raketen auf Anwohner ballert, den schmeiß' ich aus der Demo raus!“ Die Anweisungen werden beklatscht, die Autonomen möchten auf die rechtsradikalen Krawalle offenbar mit revolutionärer Disziplin antworten. Die meisten halten sich an den Konsens, der „Heute keine Gewalt“ heißt. Viele Demonstranten gehen entschlossen dazwischen, wenn es am Rande zu Rempeleien mit Einheimischen kommt.

An der Spitze des Zuges laufen die Rostocker, 2.000 sind es, mehr nicht. Die Lokalpresse und der Senat haben davor gewarnt, nach Lichtenhagen zu kommen; bis heute ist in den Rostocker Zeitungen von „ausländerfeindlichen Krawallen von rechts und links“ zu lesen. In dem Rostocker Block läuft auch Hans Modrow, der vorletzte Ministerpräsident der DDR. In Lichtenhagen sei er noch nie gewesen, bekennt er, Rostock kenne er aber ganz gut. Schließlich sei er in den 60er Jahren Gebietssekretär der Freien Deutschen Jugend gewesen. Um die Jugend von heute macht Modrow sich Sorgen. „Die werden verführt. Ich kenne das, ich war als sehr junger Mensch auch in der HJ, später im Volkssturm.“ Auch Modrow glaubt, daß die elterliche Autorität in der vergangenen Woche in Lichtenhagen außer Kraft gesetzt worden ist. „Wenn das Selbstwertgefühl der Mütter und Väter — zum Beispiel durch Arbeitslosigkeit — nachläßt, spüren die Kinder das sehr genau.“ Was wird aus der Generation dieser 16jährigen? Modrow befürchtet „das Schlimmste, wenn nicht ganz schnell was passiert“. Bloß was?

Inga fände es „immerhin schon gut, wenn die hier nicht einen Jugendclub nach dem anderen schließen würden“. Um sich zu amüsieren, muß sie in die zehn Kilometer entfernte Innenstadt — im Zentrum ist das Vergnügen dazu noch teurer, als es früher im Viertel war. Auch heute abend will Inga mit ihrer Freundin Anja noch mal in die Disco, deshalb haben die Mädchen mit Wimperntusche und Lidschatten auch nicht gespart. Anja ist „gegen alle Ausländer“, hört am liebsten „rechte Musik“. Die wird in den Rostocker Discos aber nicht gespielt, weil „die Skins sonst ausflippen“. Klassik findet Anja auch ganz gut. Und die Eurythmics. Und Erasure. Und Spanien. Und Frankreich. Und die USA. Da waren ja auch Krawalle. Eine Sauerei war das. Was? Daß nur weiße Geschworene den Schwarzen Rodney King verurteilt haben. Das hätte sie sich auch nicht gefallen lassen. Anja möchte gerne mal nach Kalifornien. „Da wäre ich natürlich Ausländerin“, sagt sie in nachdenklichem Ton. „Aber ich würde mich da ja auch anständig benehmen.“ Nach Mallorca will die 16jährige Bürokauffrau lieber nicht. „Da sind mir zu viele Deutsche!“

„Bürger laßt das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein!“ skandieren die Demonstranten. „Ihr glotzt doch auch!“ ruft eine Anwohnerin empört zurück. Es bleibt beim gegenseitigen Glotzen. Die Demonstranten möchten demonstrieren, daß sie ganz schön viele sind. Wie sie mit den in den Hauseingängen stehenden Bewohnern umgehen sollen, wissen sie nicht so genau. Ein Dialog findet nicht statt. In der Karl Zylla Straße winkt im dritten Stock eines Vorderhauses ein Bürger vom Balkon herunter. Die Demonstranten winken begeistert zurück: Endlich ein aufrechter Mensch, Beifallsstürme, Hochdieinternationalesolidarität. Der Bürger winkt etwa eine viertel Stunde, immer mehr Balkonier schließen sich an. Dauerwinken ist anstrengend, die Arme werden müde. Der Bürger hört einen Moment lang auf — Sekunden später skandieren Demonstranten, die um die Ecke biegen, wieder „Schämt euch! Schämt euch!“. So enden Dialogversuche immer wieder als Strafexpedition. Im dreizehnten Stock eines anderen Hochhauses streckt ein Bürger den Demonstranten den rechten Arm zum Hitlergruß entgegen. Ruckzuck fliegt eine Leuchtrakete durch das geöffnete Fenster. „Hört sofort auf mit der Scheiße!“ empört sich ein Demonstrant. „Wer so was macht, ist für mich ein linker Fascho.“ Ein paar Journalisten haben die Szene beobachtet und das Streitgespräch mitnotiert. „Es gibt keine linken Faschos, das brauchen Sie gar nicht aufzuschreiben“, meint ein Autonomer und baut sich in wichtiger Pose vor den Presseleuten auf.

Eine Rednerin hat das Erscheinen der „über 600 Journalisten aus aller Welt“ zu Beginn der Demo „ausdrücklich“ begrüßt. Das Kabinett in Bonn habe Angst vor den internationalen Reaktionen. Zehn Minuten später springt ein Vermummter einem Kameramann mit gestrecktem Bein in den Rücken, weil der eine Rangelei filmen wollte. „Verdammte Scheiße! In der Woche drohen mir die Rechten Prügel an und jetzt ihr!“ brüllt er zurück.

Die Abfahrt der Demonstrationsteilnehmer läuft generalstabsmäßig ab. Keiner bleibt alleine zurück, die Rückreise nach Hamburg, Berlin, Nürnberg, Dresden oder Bremen erfolgt im Konvoi. Fünf Antifas schützen einen Imbiß vor Plünderung, den linke Jugendliche aufgebrochen haben. Einigen wenigen ist in Lichtenhagen nicht genug passiert. Auf dem Weg zum Auto verprügeln sie einen 16jährigen Rostocker Schüler, angeblich, weil er ein Eisernes Kreuz besitzen würde. Es stellt sich heraus, daß er gar keines bei sich trägt. „Wieso hast du Arschloch den geschlagen?“ fragt ein Autonomer aus Dresden den Schläger. „Weil die Ossis hier alle Schuld haben!“ ruft der zurück. „Du Rassist!“ erwidert der Dresdner, „du verdammter Rassist!“ Claus Christian Malzahn, Rostock