Monster gegen Ungetüm

■ Der High-Tech-Jäger "Kurpfalz" und der Plüscholdie "Schwarzwald" liefern sich einen harten Kampf um Reisende / Ein Wettrennen mit überrraschendem Ausgang

/ Ein Wettrennen mit überraschendem Ausgang

Jeden Morgen, meist gar pünktlich um 8.13 Uhr, setzt sich im Bahnhof Altona ein seltsames blau- beige gestreiftes Zugunwesen aus grauer Bahnvorzeit in Bewegung: Der FD 1971 „Schwarzwald“. Ausgeleiertes Wagenmaterial aus frühen Intercity-Zeiten, gelb-rötliche Plüschabteile mit Fenstern, die sich öffnen lassen, keine Klimaanlage, Klos, die ihren Inhalt auf die Schienen kippen. Ein wildes Durcheinander von Kurswagen in die seltsamsten Schwarzwaldgegenden — und ein echter alter Gepäckwagen.

Ein halbes Frühstück später, um 8.48 Uhr startet der ICE 599 „Kurpfalz“, eines jener windkanalveredelten vollklimatisierten Pannenmonster, mit denen die Bahn in ihre ungewisse Zukunft rast. Meist ist fast jeder Platz besetzt, die Gänge voller Koffer gestopft, die in den verschlankten Gepäckablagen keinen Platz mehr finden. Aus dem Billig-Ohrhörer (6,50 Mark) des Nachbarn quäkt Udo Lindenberg seine „Weltreise“, der nasebohrende Zwerg gegenüber ergötzt sich ohrenscheinlich am Pasinger Kinderchor mit „Backe, backe Kuchen“, später wird das Hörspiel „Waldo“ folgen - die Titelmelodie trompetet Michael Schanze. Dafür kommt der Ausländer mit dem Kaffeewagen nicht mehr durch - die Koffer sind sein Schicksal.

Spätestens in Hannover haben sich bei sensiblen Wirbelsäulen erste Verspannungen eingestellt. Schwangere und Menschen mit Bandscheibenschäden sollten den ICE über längere Strecken nicht benutzen - auch die etwas hakelige Verstellautomatik ändert nichts daran, daß die Sitze in den Abteilen orthopädische Folterinstrumente sind.

Überhaupt diese Abteile: Eng gestapelt die zweite Klasse, Kniefühlung ist Ehrensache. Etwas besser die Situation in den Großraumabteilen. Leise gleitet der ICE dahin. Der Lärmschutz vor den Nachbarn fehlt, wohliges Wir-Gefühl stellt sich ein, ein bißchen Butterfahrt-Athmosphäre - wie im Jasperbus. Kaum ein Blick nach draußen -

1Tunnel, Tempo und Lärmschutzwände blockieren das Auge.

Noch in Göttingen hat der FD die E-Lok-Nase um neun Minuten vorn. Erst in Frankfurt geht der Jäger aus der Kurpfalz in Führung. Die große Stunde des FD-Reisenden schlägt in Mannheim. Wenn, wie oft, der ICE Kurpfalz dort den Euro-City „Berner Oberland“ (Amsterdam-Basel-Intelaken) verpaßt, steigt der frustierte ICE-Reisende in das Schüttelgefährt FD „Schwarzwald“ um. Seit Einführung des ICE bietet die Bundesbahn nämlich keine durchgehende Verbindungen mehr zum Oberrhein. Reisende Richtung Karlsruhe, Offenburg, Freiburg, Schweiz müssen in Mannheim umsteigen. Mit einer Ausnahme - dem Fern-Expreß „Schwarzwald“.

So manch Hamburger Vielreisende haben inzwischen den Charme des umsteigefreien Bahnoldies entdeckt. Die alten Polster mit hochklappbaren Armlehnen

1bieten überlegenen Sitzkomfort, der Abteil-Standard besorgt individuelle Intimität, vor allem wochentags, wenn der FD sich angenehm leer präsentiert. Radfahrer schätzen die Fahradmitnahmemöglichkeit im Gepäckwagen, Schwerbeladene die guten alten Kofferverstaumöglichkeiten und Ökonomen den billigen Preis - ohne ICE oder IC-Zuschlag ist die Fahrt hier bis zu 30 Prozent billiger als im ICE.

Ökologisch Gebildete meiden eh den ICE: Der ist nämlich, weil viel zu schwer und aufwendig, ein enormer Verschwender von Primärenergie. Ein halb besetzter ICE trägt pro Person und Kilometer fast genausoviel zur Klimakatastrophe bei wie ein halbbesetzter PKW. Ganz anders der energiesparende FD. Bleiben die Eiligen: Um 15.34 Uhr, nach gut sieben Stunden erreicht der FD Freiburg. ICE-Reisende erreichen die Südwestmetropole nach erfolgreichem Umsteigen im Mannheim um 15.01 Uhr, nach gut sechs

1Stunden.

Die Bahn hat bei ihrem ICE vor allem den Geschäftsreisenden mit Aktenköfferchen im Blick gehabt, den Gebrauchswert für normale Reisebedürfnisse gefährlich herunter geschraubt. Aber auch die schimpfen schon. Einer der 235 Glücklichen, die derzeit eine persönliche Bundesbahn-Jahresnetzkarte 1.Klasse haben (Preis: 18695 Mark), gestand kürzlich der taz, er sei vom ICE wegen der konzentrationsfeindlichen Gesellschaftsreisen-Athmosphäre entsetzt. Er machte aber sich und der taz Hoffnung: „Das Innere des ICE ist modular aufgebaut. Die können das Ding jederzeit vernünftig ausstatten.“ So bleibt der kleine Trost, eines Tages könnte der aufwendige Glitzerwurm auch Fahrräder, Gepäck, Arbeitswillige, Ruhebedürftige, Kaffeesüchtige und Rückenempfindliche so bequem befördern, wie heute der FD „Schwarzwald“. Florian Marten