DEBATTE
: Lieblingsfeindbild Mafia

■ Die „deutsche Spur“ der Mafia hält nicht, was die Medien suggerieren

Zehn, fünfzehn Jahre haben sich Polizisten und, vereinzelt, Forscher und Journalisten, den Mund fusselig geredet, Beweise gesammelt, auf die Gefahr aufmerksam zu machen versucht — vergebens: Wer behauptete, die Ausbreitung mafioser Verhältnisse in der Bundesrepublik sei nicht nur möglich, sondern bereits in vollem Gange, geriet gleich von mehreren Seiten unter Beschuß: von links, weil dort der Verdacht blühte, Ordnungshüter und -fanatiker suchten nur wieder mal nach Begründungen für eine neue Aufrüstung der Polizei. Auf konservativer Seite wiederum hatte er sich mit der Beschuldigung herumzuschlagen, da wolle ein maskierter Kapitalismus-Muffel über Gesetze gegen Geldwäsche das über alles geheiligte Bankgeheimnis aushebeln.

Daß mafiose Gruppen in Deutschland seit langem zugange sind, wurde gerne verdrängt oder auf interne Auseinandersetzungen zwischen Gastarbeitergruppen reduziert. Noch zu Beginn der neunziger Jahre stieß die taz-Erkenntnis wechselseitig in Deutschland und Italien geparkter Straftäter und Killer selbst in Polizeikreisen und bei Staatsanwälten auf kräftige Skepsis. Als nach dem Mord am sizilianischen Richter Livatino zwei Tatverdächtige in Nordhrein-Westfalen festgenommen wurden, verstummten derlei Einwände abrupt — und machen nun, plötzlich, der umgekehrten Tendenz Platz. Spätestens seit die auch diesseits der Alpen bekannten Mafia-Ermittler Falcone und Borsellino in gewaltigen Dynamit-Attentaten zerstückelt wurden, wollen alle, alle (Medien) die Mafia in Deutschland gesichtet haben.

Die „pista tedesca“ — eine Sackgasse

Wir wären ja keine Deutschen: Nachdem wir zuvor nichts bemerkt haben, müssen wir nun sofort auf den Weltmeistertitel zielen, auch in Sachen Mafia. Die Ermordung Giovanni Falcones und Paolo Borsellinos muß in Deutschlands Mafia-Verstecken wenn schon nicht beschlossen, so doch bis ins Detail vorbereitet worden sein. „Alle Ermittlungen über die Bluttat“, schwadroniert der Spiegel in seiner Ausgabe vom 24.8., „führen aus Italien auf eine ,pista tedesca‘, eine deutsche Spur.“ Die Beamten des Bundeskriminalamts, ansonsten glücklich, daß das Thema „Mafia in Deutschland“ nun durch den Spiegel endlich höhere Aufmerksamkeits-Weihen erfährt, ziehen den Kopf ein: „Beweise für die Planung und Realisierung der beiden Attentate aus Deutschland gibt es nicht“, so auf eine Anfrage der taz.

Tatsächlich ist die „deutsche Spur“ in allen Fällen allenfalls vage: Bei Falcone gibt es überhaupt keine konkreten Anhaltspunkte, bei Borsellino stützt man sich vornehmlich auf eine geplante Deutschlandreise, wo er mehrere aussagewillige Gangster vernehmen wollte. Doch die hatte er auch schon vorher gesprochen, und die gesammelten Aussagen hatte bereits sein Mitarbeiter Oberst Canale nach Sizilien gebracht. Weitere Indizien gibt es nicht. So muß die Analogie zum Staatsanwalt Rosario Livatini herhalten, dessen mutmaßliche Mörder in Leverkusen festgenommen worden waren. Doch in Wirklichkeit wackelt auch hier die Anklage kräftig: die Identifizierung des Mannes durch einen — unverdächtigen norditalienischen Tatzeugen — geschah nämlich keineswegs so eindeutig und beweiskräftig, wie es die bisher publizierten Vernehmungsprotokolle vorspiegeln.

Hinter der Mafia stehen auch andere Interessen

So wichtig es ist, daß Deutschland endlich aufwacht und sich der Gefahr durch die Organisierte Kriminalität bewußt wird, so gefährlich ist die Weise, in der dies nun geschieht.

Die allzu starke Konzentration auf die „deutsche Spur“ in den besonders spektakulären Mordfällen Livatino, Falcone und Borsellino könnte nämlich einen Effekt haben wie schon vor drei Jahren das Buch „Der Mob“ des Fernsehjournalisten Dagobert Lindlau: Nachdem dessen Behauptungen über eine Durchdringung der Bundesrepublik mit immer dichteren Unterweltstrukturen zunächst die Öffentlichkeit aufgeschreckt hatte, erwies sich in Dutzenden von Hearings, daß Lindlau in vielem allzu unpräzise war — mit der Konsequenz, daß die Sache ins Fach „Ist alles doch nicht so schlimm“ abgelegt wurde. Die dringend notwendige Verabschiedung von Gesetzen gegen die Organisierte Kriminalität— etwa gegen Geldwäsche und zum rechtsstaatlich einwandfreien Schutz aussagewilliger Aussteiger — wurde um Jahre verzögert.

Auch im Falle der ermordeten sizilianischen Ermittler könnte sich nach kurzer oder längerer Zeit herausstellen, daß die „deutsche Spur“ nicht hält. Italienische Experten vermuten hinter den großen Attentaten sowieso mehr als nur die Mafia. Sie konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf immer deutlicher sichtbare Manöver zur Ablenkung von den riesigen Bestechungsskandalen in Oberitalien, in die nicht mehr nur einfache Kommunalbeamte und Abgeordnete, sondern mehr und mehr auch Spitzenpolitiker nahezu aller etablierten großen Parteien verwickelt sind.

Doch selbst wenn sich am Ende Mafiosi als alleinige Urheber und Exekutoren der Attentate herausstellen sollten, ist gerade gegenüber den ersten „Spuren“ immer die allergrößte Skepsis geboten: Wer sich lange genug mit dem Verhalten der Clans beschäftigt hat, weiß, daß diese die Vernebelung bereits lange vor dem Attentat bis ins kleinste planen. Als vor zehn Jahren der Antimafiapräfekt Dalla Chiesa und seine Frau ermordet wurden, lagen bereits Dutzende falscher „Spuren“ bereit— auch angebliche „Aussteiger“ meldeten sich, einer davon hielt die Ermittler mit einer „kalabresischen Spur“ mehr als drei Monate in Atem, wertvolle Zeit für die wirkliche Fahndung verstrich. Auch das Feuerwerk mit Dutzenden von Toten, das die Italiener derzeit im Kleinstädtchen Palma di Montechiaro erleben, gilt erfahrenen Ermittlern als reines Ablenkungsmanöver — während die Presse (die deutsche insbesondere) dort das neue aufsteigende Mafia-Nest vermutet, sind die Bosse in aller Ruhe anderwärts zugange.

Doch die Konzentration auf die italienische Mafia, die „alarmierenden Details über die Macht sizilianischer Clans diesseits der Alpen“ (Spiegel) hat noch weitere fatale Folgen. Einerseits wird damit die Frage der Organisierten Kriminalität wieder einmal auf eine einzige Unterweltgruppe verengt, während die weitaus größere Gefahr längst von anderen Seiten droht — etwa den aus Fernost und Südamerika kommenden Syndikaten. Längst nämlich hat die sizilianische Mafia nicht mehr das Sagen in Europa wie noch vor zehn Jahren. Hatten die Clans in den achtziger Jahren den Rauschgifthandel in Europa noch zu 60 Prozent, den in die USA gar zu 80 Prozent unter Kontrolle, sind dies heute nur noch 25 beziehungsweise 40 Prozent. Was heute von den Ermittlern rekonstruiert wird — etwa die in besagtem Spiegel abgedruckte famose Struktur der Mafia-Macht in Palma di Montechiaro — ist blanke Mafia- Archäologie.

Mafiose Strukturen — auch ohne die Mafia

Längst wurden mafiose Methoden unabhängig von der Mafia gesichtet. Organisierte Kriminalität ist bereits allenthalben zugange, ohne daß es dazu sizilianischer Killer oder dunkelbebrillter Bosse bedarf. Amerikanische Tabakkonzerne, so eine Erkenntnis des italienischen Finanzministeriums, haben den einst der Camorra zugeordneten Tabakschmuggel längst in eigene Regie genommen, Zöllner- und Polizistenbestechung sowie die Anheuerung von Killern für unbotmäßige Zwischenhändler eingeschlossen. Illegaler Waffenhandel wie etwa die Aufrüstung des Irak, einst ebenfalls Europa-Domäne der Clans, wird über Banken wie die US-Filiale der Banca nazionale del Lavoro viel umfangreicher und ungenierter abgewickelt, als es die Mafia jemals vermochte. Und schließlich ist da auch noch die genuin deutsche, bürokratisierte Form Organisierter Kriminalität, die in schöner Zusammenarbeit von Ministerien, Zoll, Geheimdiensten und internationalen Schiebern Blaupausen verdealt oder NVA-Waffen am Embargo vorbeimanövriert.

All das droht nun verdeckt zu werden. Aber vielleicht ist die volle Konzentration auf die „pista tedesca“ nicht nur den italienischen Mafiosi ganz lieb. Werner Raith, Rom