Wie das warme Messer durch die Butter

Reinhard Mohr entlarvt in seinem jüngsten Essay die Generation der 78er, eine Generation mit zu vielen Eigenschaften und zu wenigen Erfahrungen  ■ Von Bernd Ulrich

Generationen gehören zu den wenigen Heimaten, die dem modernen Menschen noch bleiben. Den Ideologien entflohen, vom Geburtsort weggezogen, der Nation ohnehin entfremdet, beruflich flexibel und konfessionell mäßig interessiert, bleibt die Gleichaltrigkeit als gemeinsamer soziologischer Nenner.

Die kulturelle und politische Wahrheit über die 78er (-scene) sucht Reinhard Mohr in seinem Buch „Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam“. Ganz im Stil einer Generation, die allzu lange in der ersten Person gesprochen hat, beschreibt der 37jährige Autor die 78er heute, als rede er nicht auch von sich, obwohl er zu den heute „33- bis 39jährigen“ gehört. Aber es dürfen sich getrost alle mit unter seine Schelte ducken, die nicht zu den von ihm etwas dürr als Computerkids charakterisierten 88ern zählen; jeglicher inhaltlichen Definition entzieht sich der 78er seiner Natur gemäß ohnehin — und zwar durch Flucht vor Reinhard Mohrs Nachstellungen in alle Lebensbereiche.

Herausgekommen ist ein gutes Buch. Es enttäuscht dennoch all jene, die nach Lektüre der Einleitung auf eine ebenso knallharte wie amüsante Abrechnung hoffen. Da geht es um „Angehörige einer historisch ,überflüssigen‘ Zwischengeneration“, um „die intelligente Mittelmäßigkeit der Spätberufenen“. Sie seien „selbstzerfleischend nach innen und arrogant nach außen, gerechtigkeitsversessen und selbstgerecht“; mottenhaft unauffällig eingekeilt zwischen zwei Generationen, die es besser machten.

Die Spätberufenen sind mittelmäßig intelligent

Man wird beim Lesen von der Gier getrieben, die einen bei der Lektüre alter Tagebücher befällt. Die alten Sprüche, die vergessenen Teach-Ins, die Moden von gestern und die abgelegten Lieben. Man geht durch das Buch wie das warme Messer durch die Butter. Begleitet von nostalgischen Zitaten und nicht zuletzt gespannt durch die Erwartung einer schallenden Ohrfeige. Die bleibt aber aus. Lauter zutreffende Beobachtungen fliegen am Leser vorbei, ohne je richtig zu treffen. Es tut nicht weh. Das liegt gewiß nicht am 78er- Leser allein, es liegt auch am Autor selbst. Mohr verhöhnt die Vergangenheit, ist zufrieden mit der Gegenwart und verschwendet keinen Gedanken an die Zukunft der 78er.

Die Mohrsche Draufsicht kritisiert fast alles, schmeichelt dabei unmerklich und weicht den wirklich gefährlichen Stellen aus. Insofern ist der Essay zugleich Dokument. Er ist, was er beschreibt. Die ironische Distanz ändert daran nichts. Sie ist eines der wichtigsten Stilmittel, mit dem sich die 78er die Realität vom Leibe halten, um sich dennoch komfortabel in ihr einzurichten. Was am meisten stört bei den 78ern wie auch bei ihrem Chronisten: der Gestus der Rebellion. Reinhard Mohr geriert sich in seinen „Zaungästen“ in der Pose eines Nestbeschmutzers, obwohl es dieses Nest nach seiner Darstellung gar nicht mehr gibt.

Ebenso die 78er selbst: rebellisch noch lange nach dem Verschwinden oder der Miniaturisierung des Gegners; Nonkonformismus, der schon längst zum Mainstream geworden ist. Das gibt es unter den 68ern natürlich auch. Nur wirkt es bei den Jüngeren deutlich unsympathischer: Gegen die katholische Kirche, ohne ihren repressiven Seiten noch voll ausgesetzt gewesen zu sein und obwohl sie heute eine Minderheiten-Organisation ist. Gegen die autoritären Väter und Lehrer, ohne zu nachhaltig unter ihnen gelitten zu haben und obwohl die kleinen Prinzen von heute problematischer geworden sind als die autoritären Knochen von gestern.

Eine nachgesprochene Revolte, die bis heute zur Freiheit ohne Verantwortung neigt, sich zum Abschneiden aller alten Zöpfe geradezu berufen fühlt, ohne daß sie die Pflicht, Alternativen zu schaffen, noch drücken würde. Eine Generation mit zu vielen Eigenschaften und zu wenigen Erfahrungen. Kurzum: Es ist die Generation, die noch nicht ins Geschirr mußte.

Reinhard Mohr hat recht: Die heute 30- bis 40jährigen waren während der deutsch-deutschen Vereinigung in allen Apparaten und Institutionen ein wichtiger Puffer zwischen den 68ern und den 68jährigen. Die einen verloren vor lauter Résistance gegen alles Deutsche den Blick für die Realitäten, die anderen liefen deutschselig mit Tränen in den Augen herum. An diesem Punkt hat sich die Resistenz der 78er, die sich gleichermaßen gegen Nationalismus wie Antinationalismus richtete, stabilisierend und rationalisierend ausgewirkt. Doch das war eine einmalige Situation, in der die 78er mit ihrer Mischung aus Stoizismus und Flexibilität gegenüber einer Geschichte, die andere machten, etwas bewegen konnten.

Am meisten stört der Gestus der Rebellion

Wenn man sich für die Potentiale der Generation interessiert, die, wenn die Geschichte sie nicht einfach überspringt, die Republik ins neue Jahrtausend führen wird, muß man mehr leisten als die Kritik des Futons am Hochbett. Keine angemessene Würdigung finden bei Mohr zwei Sieger der 78er, die die Gesellschaft heute teuer zu stehen kommen.

Zum einen der Triumph der Abzockermentalität. Noch in den frühen Siebzigern waren große Teile der Bevölkerung mit unpraktischen Vorbehalten gegen die Entgegennahme von Staatsknete belastet. Sie taten alles, um den Gang zum Sozialamt zu vermeiden. Das war übertrieben, und keiner hat das genauer und ausgiebiger erkannt als die 78er. Sie waren die erste Generation, die aufgrund virulenter Staatsfeindlichkeit keine Hemmungen beim Abzocken des sozialliberal expandierenden Wohlfahrtsstaates hatte; sie waren zugleich gebildet und selbstbewußt genug, um mit jedem Formblatt und jedem Beamten fertig zu werden. Als Absahner-Avantgarde trugen sie das Wohlfahrtsdenken weit über jedes wünschbare Maß hinaus. Die 78er sind also nicht nur die heute erfolgreichen Kommunikativ-Designer und redlichen Immer-noch-Taxifahrer, als die Reinhard Mohr sie sieht. Sie lassen sich vom Staat alimentieren und bilden die zähe Masse bei vielen Alternativprojekten, von der taz bis zu den Grünen. Dort salbadern sie aus Eigennutz und mit bürokratisch-konservativen Effekten. Einige wirken dabei älter als die 68er.

Zum anderen das Singletum. Die 78er sind die ersten, bei denen das „strukturell“ verschwenderische Singleleben massenweise von der Lebensphase zur Lebensform wurde. Die Hälfte der Haushalte in den Großstädten sind Single-Haushalte. Der gesellschaftlich prägendste Teil davon sind die 78er. Sie üben — sozial und räumlich flexibel, wie sie sind — einen enormen Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt aus und fühlen sich dabei immer als potentielle Opfer, weil sie ja allein sind.

„Die alte Betroffenheitsphrase ,Ich steh' zu meinen Problemen‘ hatte sich über die Variante ,Ich steh' zu meinen Bedürfnissen‘ zu dem endlich eingestandenen Wunsch bekannt, weder die Weigerung noch die Lust etwas zu tun, ständig begründen oder rechtfertigen zu müssen.“ Da hört es aber nicht auf. Das dauernde Bewerten von früher hat sich häufig zur Beseitigung aller Werte bis auf zwei gewandelt — der individuellen Freiheit und der sie schützenden Toleranz, die stets und vehement eingeklagt wird. Kannten Stadtteil-Kollektiv und Bezugsgruppe einst keine Grenzen der Privatheit, so kennt heute das Ego oft keine Grenzen der Sozialverträglichkeit mehr.

Mohrs Weggefährten sind also auch heute nicht nur die Individuen, „die freier und souveräner agierten als je zuvor“. Sie schillern, sind zugleich souverän, sozial, sensibel und ideologie-resistent, aber auch egoistisch, mehr und mehr auf Karriere um ihrer selbst willen bedacht. Dafür haben sie nicht nur glücklich das Kriterium politischer Sauberkeit preisgegeben, sondern oft jeglichen inhaltlichen Einspruch.

Der wichtigste Faktor, nachgerade die 78er-Fähigkeit schlechthin, ist nach wie vor ihre diskursive Omnipotenz, vor allem im direkten Gespräch. Es begann mit dem Glauben an „die Allmacht des Gesprächs, einer Art Dauerdiskussion, die, so dachten viele 78er, alle künstlichen Barrieren zwischen Menschen beseitigen würde, sofern sie nur guten Willens und nicht etwa Interessenvertreter einer herrschenden Elite wären“. Das war natürlich Unsinn, aber „die Konkurrenz der Selbstbekenntnisse, die Olympiade der Betroffenheit“ hat praktisch zu einer beispiellosen Zungenfertigkeit geführt. Die 78er waren die ersten, die nicht mehr am liebsten über andere tratschten, sondern über sich selbst. Mittlerweile haben sie sich damit eine ungeheure Sprachgewalt erredet, die sie in die Lage versetzt, alles diskursiv zu zerstäuben — vom persönlichen Vorwurf bis zur Kritik an beruflichen Fehlleistungen.

Die 78er haben in zwei Zeitaltern gelebt

Die „erste antiautoritäre Generation der Bundesrepublik“ (Mohr) ist zugleich die erste durchpädagogisierte und durchpsychologisierte Generation. Bei ihnen kamen zu den „Gesellschaftsstrukturen“ der 68er die „Psychostrukturen“, die Entlastung verhießen, wo immer die Letztursächlichkeit „des Systems“ nicht lückenlos abgeleitet werden konnte. Die Erben der Revolte waren als erste in jeder Lebenslage fähig, Schuld und Verantwortung in Bedingungen, Wechselwirkungen, Probleme und eben Strukturen aufzulösen. Das kommunikative Potential kann zu beidem dienen: sich Verantwortlichkeiten zu entziehen oder der Gesellschaft zu helfen, sich bei aller Überkomplexität nicht zu verlieren und im Krieg der Segmente aufzureiben.

Die 78er haben in zwei Zeitaltern gelebt. In dem einen haben sie sich recht absurd verhalten, das zweite verspricht selbst verrückt zu werden. Darin liegt — wenn es so etwas gibt — ihr Generationenauftrag. Hauptthema wird die Ökologie bleiben, die auch Reinhard Mohr unter seinen Altersgenossen zu einer „Großmacht“ aufsteigen sieht. Nur gerät sie bei ihm unter den ideologiekritischen Hammer: „Von Anfang an war der Widerstand gegen Atomkraftwerke, Kanalbauten, Autobahnen, Flughafenerweiterungen, Müllverbrennungsanlagen und Sondermülldeponien mit dem Bild von ,Ökotopia‘ aufgeladen: der Idee einer grundsätzlichen Alternative zur Wachstumslogik der Industriegesellschaft.“ Wirklich? Selbst wenn: Der reale Kern ist bei der Ökologie allemal hart genug, um die Moden und Trends, die um sie herum entstehen, zu überstehen. Vor vier Jahren hat Reinhard Mohr zusammen mit Dany Cohn-Bendit die Geschichte der 68er aufgeschrieben. Der Untertitel zu ihrem Buch lautet: „Die letzte Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wußte“. Daß Mohr heute zur ersten Generation, die alles übers Ozonloch weiß, nicht mehr einfällt als Ideologiekritik, ist enttäuschend — und drückebergerisch.

Reinhard Mohr ist mit den 78ern zufrieden, indem er ihre Zukunft schon jetzt zur Vergangenheit erklärt. So alt sind wir noch nicht. Was wird aus den 78ern, was wird aus der Bundesrepublik, wenn diese Generation regiert, leitet, führt? Es wäre ihr zu wünschen, daß sie ihre heutige Nüchternheit nicht mehr so sehr durch einen immensen Sicherheitsabstand zur Leidenschaft aufrechterhalten muß; daß sie ihre diskursive Omnipotenz weniger zur Abwehr von Zumutungen aller Art benutzt (wie die Dogmen und Sentimentalitäten der 68er), sondern zur Erkundung des Neulands, das gegenwärtig allen angst macht.

Reinhard Mohr, „Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam“, 1992, S. Fischer-Verlag, 222 Hardcover-Seiten, 28DM