Truppenkonzentration im Sandschak

Das Ende der Belagerung von Gorazde, von den Serben als „freiwilliger Rückzug“, von bosnischen Truppen als „Durchbruch“ deklariert, ist eventuell der erste Schritt einer Ausdehnung des Krieges nach Serbien  ■ Aus Novi Pazar R. Hofwiler

Warum wurde die Belagerung der ostbosnischen Stadt Gorazde nach 120 Tagen von den serbischen Verbänden aufgegeben? Die Sarajevoer Tageszeitung Oslobodjenje war gestern mit einer Antwort schnell zur Hand: Es sei allein das Verdienst der muslimisch-kroatischen Kampfverbände, daß die Stadt am Sonntag befreit wurde. Dies dementierte im Gegenzug der bosnische Serbenführer Karadzic und behauptete, seine Verbände hätten sich im Einklang mit den Beschlüssen der Londoner Friedenskonferenz „freiwillig zurückgezogen“, was wiederum Sarajevo sofort als „Lüge“ zurückwies.

Nur aus Sandschak, einer Gebirgsregion im Süden Serbiens, wo zwei Drittel der Bevölkerung Muslimanen sind, kamen gestern völlig andere Meldungen: Nach Rasim Ljajic, Sekretär der Partei der Demokratischen Aktion (SDA), einer muslimischen Sammelbewegung der Region, hat Karadzic die Truppen nur verlegen lassen, „um eine Südfront aufzubauen“. Panzer aus Gorazde seien bereits im östlichen Teil des Sandschak, im Tal des Flußes Lim gesichtet worden. Seine Partei, so Ljajic, rechne schon in wenigen Tagen mit militärischen Schlägen der Serben gegen muslimische Siedlungen im Sandschak. Anzeichen dafür gäbe es mehrere. Seit Mitte August sei eine Generalmobilisierung aller wehrpflichtigen Serben und Montenegriner im Gange. In den größeren Städten seien bereits Trainingslager eingerichtet worden, während gleichzeitig Panzerfahrzeuge und Truppenverbände das Straßenbild bestimmten.

Ein weiteres Zeichen, daß sich im Sandschak eine Konfrontation abzeichnet, sind Propaganda-Meldungen der Belgrader Presse. Danach werden zur Zeit serbische Reliquien und andere Exponate aus den Schatzkammern der orthodoxen Klöster und Kirchen aus der Gegend abtransportiert, um sie vor „muslimanischem Vandalismus zu schützen“. Auch wird in vielen Zeitungen Belgrads behauptet, im Sandschak häuften sich Vorfälle von nächtlichen Zerstörungsfeldzügen muslimischer Fanatiker gegen serbische Einrichtungen. Vergewaltigungen an serbischen Nonnen durch muslimische Fundamentalisten seien an der Tagesordnung.

Diese Propaganda errinnert fatal an die achtziger Jahre. Damals mußten solche Meldungen als Rechtfertigung für die Verhängung des Ausnahmezustandes im albanisch besiedelten Kosovo herhalten. Auch vor dem Krieg gegen Kroatien fuhr die serbische Presse eine heftige Kampagne gegen angebliche Plünderungen an serbischem Eigentum durch „faschistische Kroaten“.

Wie vor über einem Jahr in Kroatien fordern nun Belgrader Politiker die serbischen Bewohner des Sandschak auf, die Region vorübergehend zu verlassen, „da mit Konflikten zu rechnen sei“. Serbische Frauen und Kinder sollten sich in Sicherheit bringen und die Männer zu den serbischen „Heimatverbänden“ gehen. Solche und ähnliche Aufforderungen werden seit Tagen im Osten des Sandschak in Flugblättern und öffentlichen Bekanntmachungen unter den serbischen Einwohnern verbreitet.

Serbische Militärs behaupten ihrerseits, über den Sandschak liefe seit Wochen der Nachschub für die bosnischen Truppen. Vor allem über die Berge des Kovac- und Zlatibor- Gebirges gelangten große Mengen an Munition und leichtem Geschütz in die Hände muslimanischer und kroatischer Verbände in Ostbosnien. Organisiert werde dieser Waffenhandel mit Hilfe ortskundiger Muslimanen des Sandschak. Doch die Drahtzieher säßen woanders: in Tirana.

Es sei die internationale albanische Mafia, die den Krieg in Bosnien aufheize. Das glaubt zumindest der serbische Parlamentsabgeordnete und Cetnik-Führer Vojislav Seselj herausgefunden zu haben. Seine Forderung deshalb unverblümt: „Früher oder später müssen wir die Südfront eröffnen und, wenn es sein muß, bis nach Tirana marschieren.“ Dabei wäre der Sandschak das nächste Schlachtfeld.