KOMMENTAR
: Alte Politsaga

■ Die Verteidigung des Rechtsstaats durch die mecklenburgische Landesregierung

Der aufopferungsvolle Kampf des Rechtsstaats gegen die Extreme von links und rechts gehört zur Politsaga der deutschen Nachkriegsgeschichte. Galt es doch, jene „Lehre von Weimar“ zu beherzigen, nach der die erste deutsche Demokratie angeblich zwischen Nazismus und Bolschewismus zerrieben worden sei. Wie seit eh und je folgte für die deutschen Staatsschutz- und Justizorgane aus dieser Maxime praktisch nur die Ausgrenzung und Kriminalisierung der radikalen Linken. Mit der Erschütterung linker Glaubensgewißheiten, später mit dem Zerfall des realen Sozialismus, geriet auch das Weltbild seiner Verfolger ins Wanken. Als selbst die terroristische Linke ihr Scheitern eingestand und die Treuesten der Treuen, die Autonomen, ihrer martialischen Selbstdarstellungen überdrüssig wurden, brach unter den Staats- wie den Verfassungsschützern die offene Identitätskrise aus.

In dieser Situation hätte sich eine praktische Schlußfolgerung angeboten: endlich Schluß zu machen mit den überlebten Doxa der wehrhaften Demokratie, die gegen beide Extreme verteidigt werden müsse. Aber wie, um Gottes willen, sollte dann die politische Mitte definiert werden, jenes Terrain, auf dem sich die Volksparteien drängeln und wo noch immer die Wahlkämpfe entschieden werden? Eine eindeutige Orientierung von Polizei und Verfassungsschutz auf den Rechtsradikalismus hätte die „Integrationsbemühungen“ unserer großen Parteien „nach rechts“ in Gefahr gebracht. Man male sich einen Verfassungsschutzbericht unter geänderten Prämissen aus: bedenkliche Zunahme rassistischen Gedankenguts im Bezirksverband X der Partei Y. Landesleitung Z gestattet Infiltration neonazistischer Gruppierungen usw. usf. Der linksradikale Feind muß erhalten bleiben, um eine stockrechte Politik als Produkt der „Mittellage“ verkaufen zu können.

Von dieser Maxime ließen sich auch die beiden mecklenburgischen CDU-Politiker Seite und Kupfer leiten. Der Rechtsstaat werde, so der Ministerpräsident und sein Innenminister, weder vor rechten noch vor linken Gewalttätern zurückweichen. So sei es in Brokdorf gewesen, in Kalkar und Wackersdorf, so werde es auch in Rostock sein. Ginge es nur um die Absurdität, die großen Anti-AKW- Demonstrationen der 70er und 80er Jahre als Werk der radikalen Linken abzustempeln, man könnte über die Äußerungen Seites und Kupfers hinweggehen — Mahnmale der Zurückgebliebenheit Mecklenburger Verhältnisse. Schließlich war es die Anti-AKW-Bewegung, die der an ihr teilnehmenden Linken die Einsicht in die Schranken der Naturbeherrschung aufzwang und damit die Grundidee des sozialistischen Projekts, die Entfesselung der Produktivkräfte unter der Herrschaft des Proletariats, in Frage stellte.

Aber die Äußerung der beiden Provinzpotentaten enthält eine tiefergehende Perfidie. Sie zielt darauf ab, die Demos der Anti-AKW-Bewegung samt ihren kalkulierten Regel- und Rechtsverletzungen mit faschistischer Gewaltausübung gleichzusetzen. Faschistischer Terror steht unter keinerlei Begründungszwang, da er sich nicht gegenüber einem angestrebten humanen Ziel legitimieren muß. Er ist lediglich Instrument für die Verbreitung von Angst und Schrecken, er dient der Destabilisierung demokratischer Institutionen, soll den starken Mann herbeirufen. Er ist ziellos. Die ihn praktizieren, ziehen daraus für einen Augenblick das erbärmliche Gefühl der eigenen Allmacht. Er ist Vorgriff auf die schrankenlose Willkür faschistischer Machtausübung.

Muß man demgegenüber noch umständlich beweisen, daß die Demonstranten von Brokdorf bis Wackersdorf in aller Regel in ihren Aktionsformen friedlich und in ihren Umgangsformen demokratisch verfuhren? Auch die Bastler, Mastabsäger und Zauneinreißer, die damals in Aktion traten, hatten mit dem faschistischen beziehungsweise nazistischen „Tätertyp“ nicht die geringste Ähnlichkeit. Wo sie Gesetze brachen, geschah das im Rahmen des zivilen Ungehorsams, der stets die eingesetzten Mittel abwägt und sich der öffentlichen Kritik stellt.

Mit zielsicherem reaktionärem Instinkt haben Seite und Kupfer gerade jene Bewegung diffamiert, die wie keine andere in Deutschland erfolgreich an die Verantwortung des einzelnen appellierte, zur Selbsttätigkeit aufforderte und schließlich unser aller Bewußtsein veränderte. Aus einem vergleichbaren seelischen und politischen Impetus sind die Menschen in der damaligen DDR 1989 gegen das bankrotte SED-Regime aufgestanden. Willfährige Ex-Bedienstete des Realsozialismus wie Seite und Kupfer werden wohl nie in der Lage sein zu begreifen, daß Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland nur durch die massenhafte, lautstarke Einmischung seiner Bürger verteidigt werden kann — auch und gerade nach Rostock. Christian Semler