: Die Taucherkrankheit
Das Experiment „Vereinigung“ klappt nicht: Die Mauern mehren sich/ Man muß die Ossis in Ruhe lassen ■ VON SONJA MARGOLINA
Ich habe mich immer gefragt, warum das Interessante an den Wessis die Unterschiedlichkeit ist, an den Ossis hingegen die Ähnlichkeit. Diese Ähnlichkeit ist nicht zufällig, sie verweist auf ein spezifisches Sozialverhalten, das sich im Sozialismus herausgebildet hat. Die Russen und Polen, die in der DDR lebten, waren immer der Überzeugung, die DDR sei das einzige Land des Ostblocks, in dem die sozialistischen Theorien tatsächlich verwirklicht wurden. Das was Lenin mit proletarischem Staat meinte, sei in Ostdeutschland Realität. Kurz, hier seien Theorie und Praxis tatsächlich eins geworden.
Mit solchen Einschätzungen sollte man allerdings vorsichtig umgehen, da sie auch Ausdruck der Ressentiments sind, die oppositionell gesinnte Ausländer, die zu Hause ihre eigenen nationalen Sozialismen hatten, gegenüber dem „perfekten“ deutschen Sozialismus empfanden. In dieser Distanzierung klingt auch ein kaum begründetes Überlegenheitsgefühl mit und die vielen Klischees über die Mittelmäßigkeit, die Diszipliniertheit, den preußischen Gehorsam und die Liebe zum „Melden“, das gar keine Stasi brauchte, sondern auf der Basis der freiwilligen Staatstreue funktionierte. Bei den Russen kommt noch der Stolz auf die Perestroika dazu und die Überzeugung, daß das Honecker-Regime ohne Gorbatschow noch jahrzehntelang vor sich hinvegetiert hätte. Diese „Feindbilder“ entstanden aus dem Bedürfnis, die eigene Misere zu relativieren. Heute wissen wir, daß sich auch beim KGB zig Millionen IMs „meldeten“: wohl kaum ein Grund für Überheblichkeit.
Und doch war dieser Staat im Hinblick auf die soziale Gleichheit und die soziale Fürsorge (dank westlicher Hilfe und dank billiger Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion) tatsächlich so etwas wie eine verwirklichte Utopie. In der Atmosphäre des Kalten Krieges und unter Ausnutzung der Opposition der beiden Systeme bedeutete diese Verwirklichung zugleich die Abschaffung der Wirklichkeit.
Zwar traf das für fast alle osteuropäischen Staaten zu, aber nur in der DDR ist es zu einem Leben in der Utopie gekommen. Die DDR-Menschen mußten kein zutreffendes Bild von den eigenen Fähigkeiten entwickeln, sie mußten kein Risiko eingehen. Die totale Abhängigkeit vom Staat bedeutete gleichzeitig die Befreiung von Eigeninitiative, von Individualisierung. Auch die Intellektuellen hatten der Staatsideologie wenig entgegenzusetzen, weil sie im Grunde dieselben Götter anbeteten. Es ist kein Zufall, daß das DDR-Dissidententum so schwach und unbedeutend war, daß es so wenige Persönlichkeiten gab, die bereit waren, ein Risiko einzugehen, und so viele, die vom Regime profitierten, wobei sie sich immer als seine Opfer fühlten. Die Intelligenzija wollte das Volk erziehen und die Moral der Regierenden verbessern, um auf der Basis kommunistischer Werte eine Harmonie zwischen Staat und Untertanen herzustellen.
In dem aufschlußreichen Essay „Die prophetische Tradition“ (siehe taz vom 1. Februar) beschäftigt sich der Autor Boria Sax mit der Rolle der Schriftsteller in der DDR-Gesellschaft. Ihr missionarischer Eifer, schreibt er, erkläre sich aus der deutschen romantischen Tradition, die durch das Marxsche Epos vom Klassenkampf sanktioniert worden sei. Der Glaube an die kommunstischen Ideale sei hierzulande nie ernsthaft erschüttert worden, er „blieb bis zum Ende des Regimes eine genuine Quelle der Inspiration“. Daraus erkläre sich die Schwäche der Opposition und daß sie nur sozialistisch sein konnte: Dem realexistierenden Sozialismus wurde immer wieder das Projekt Sozialismus entgegengehalten. Im Unterschied zu anderen Ländern des Ostens, wo der Westen quasi religiös verehrt wurde, blieb in der DDR „eine spätromantische Tradition des Marxismus eine Religion“.
Man muß das, was für eine kleine Gruppe von Schriftstellern gilt, nicht unbedingt auf die ganze Schicht der Intellektuellen übertragen. Aber man sollte auch nicht vergessen, daß die Schriftsteller in sozialistischen Gesellschaften als die Bewahrer der moralischen Normen und Orientierungen galten, vor allem wenn sie sich als Opfer des Regimes stilisierten. Ich will nicht verallgemeinern, aber diejenigen, mit denen ich sprach, waren bewußt oder unbewußt Sozialisten mit DDR-Prägung.
Was das bedeutet, kann man am Beispiel von Stefan Heym zeigen, der in einem Zeit-Interview als Regimekritiker auftrat. Der Ausgangspunkt seiner Kritik ist die Vorstellung, daß aus dem Traum, dem Ideal — wenn man richtig damit umgeht — die perfekte Wirklichkeit geboren wird. Die Idee des Kommunismus ist für ihn Realität, die Realität aber ist die Fälschung dieser Idee. Mit Hilfe des Begriffs „realexistierender Sozialismus“ würde die Realität gegen die Projektionen ausgespielt und mit ihnen gleichgesetzt. Ich halte diesen Begriff für falsch und gefährlich, er suggeriert, daß es noch einen anderen, real-nichtexistierenden, aber „echten“ Sozialismus gibt, man muß ihn nur richtig aufbauen.
Das Problem der sozialistischen Mentalität liegt nicht nur darin, daß die sozialistischen Ideale sich als verlogen erwiesen haben, da es weder Gleichheit noch Demokratie gab, und daß die alltägliche Verdrängung der Realität die Menschen in die Schizophrenie getrieben hat. Die sozialistische Mentalität war eine in der Moderne entstandene Reaktion auf die Moderne, ein Versuch, die alten paternalistischen Tugenden auf kollektivistischer Basis wiederherzustellen. Die sozialistischen Gesellschaften, das versteht sich von selbst, waren auch modern, aber eben ohne eine zivile Gesellschaft, Modernität konnte sich in ihnen nicht entwickeln.
Entsprechend weist das Sozialverhalten eines Homo socialisticus noch immer viele Überreste der traditionellen Gemeinschaftsnormen und -vorstellungen auf. Nur oberflächlich zugedeckt von der sozialistischen Ideologie, traten sie am stärksten da hervor, wo sie mit einheimischen Traditionen übereinstimmten. Als die DDR-Intelligenzija in die Moderne katapultiert wurde, fiel sie alsbald der Taucherkrankheit zum Opfer, denn intellektuell bedeutete die Öffnung nach Westen eine phantastische Zeitreise, bei der eine Epoche, die im Westen vierzig Jahre gedauert hatte, innerhalb eines Jahres übersprungen werden mußte.
Das Drama der DDR-Intelligenzija besteht darin, daß sie mit modernen Denkformen nichts anfangen kann und diese Formen, zu denen Selbstanalyse, Selbstrelativierung und rationale Organisation des eigenen Lebens gehören, als Erniedrigung und Vergewaltigung seitens des Westens ablehnt. Die einzige Reaktion auf die Moderne scheint dann die Resignation zu sein.
Die Intellektuellen im Westen haben ihrerseits in dieser Situation sehr wenig Sensibilität bewiesen. Sie haben einfach nicht verstanden, daß vor ihren Augen ein einzigartiges Experiment abläuft: eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen unterschiedlichen Alters wird in eine Gesellschaft überführt, die mit ihren Erfahrungen, Einstellungen, Bedürfnissen nichts zu tun hat. Die neuen Bedingungen werden ihnen aufgezwungen, und sie müssen sich anpassen. Angesichts des trügerischen Bildes von nationaler Einheit und gemeinsamem kulturellem Erbe fällt das besonders schwer.
Wenn ein Emigrant aus dem Osten kommt, weiß man hierzulande, daß er einem anderen Kulturkreis angehört und die Sprache kaum beherrscht. Man redet mit ihm voller Rücksicht auf diese sprachliche und kulturelle Distanz, man versucht, gemeinsame Bezugspunkte zu finden und die Fremdheit zu überwinden. Der Emigrant seinerseits weiß nur zu gut, daß er allein „im Regen“ steht und sich anstrengen muß, um den Abstand zwischen Prämoderne und Moderne in sich selbst zu überwinden. Er muß seine Persönlichkeit und seine Begabungen so umformen, daß sie von der neuen Gesellschaft gebraucht werden. Jeder andere Weg führt zu Anomie.
Für Hannah Arendt, die diese bitteren und gleichzeitig befreienden Erfahrungen als Flüchtling in Amerika gemacht hat, war Exil ein Sinnbild dieser Reise, die die Menschen unternehmen müssen, um erwachsen zu werden, um sich aus den Bindungen der Gemeinschaft zu lösen und im Jetzt zu leben.
Die DDR-Intellektuellen beschweren sich oft, von den Wessis herablassend behandelt zu werden, wie Kinder. Aber in paternalistischen Gesellschaften sind Untertanen immer Kinder, und der Infantilismus ist eine Kehrseite des Paternalismus. Wenn es eine Chance für die DDR-Intelligenzija gibt, dann besteht sie in der schmerzhaften Loslösung aus ihren früheren gemeinschaftlichen Bindungen und in der Individualisierung.
Die Westler bestehen auf sofortiger Angleichung. Was aber im Westen ganz selbstverständlich als „Werte der bürgerlichen Gesellschaft“ angesehen wird, existiert im Osten nur als Begriff, der noch nicht „erlebt“ wurde, der nur das Bedürfnis nach Veränderungen widerspiegelt, nicht die Realität des Alltags. Kein Wunder, daß Westler und Ostler selbst dann Verständigungsschwierigkeiten haben, wenn sie dieselben Worte benutzen. Anders gesagt: Die Wiedervereinigung hat die Auseinandersetzung zweier Kulturen eingeleitet. Nicht die wirtschaftlichen Maßnahmen, sondern Mentalitätsprobleme werden die Perspektive der Entwicklung bestimmen.
Vielleicht wäre alles weniger katastrophal verlaufen, wenn man die Ex-DDRler sich selbst überlassen hätte in der Hoffnung, daß die Realität viele Intellektuelle zwingen werde, ihren eigenen Weg zu wählen. Aber dazu ist es nicht gekommen, sondern die West-Medien haben damit begonnen, moralisch Gericht zu halten über die DDR-Schriftsteller und die Stasi-Verstrickungen. Mit Erstaunen habe ich festgestellt, daß auch viele West-Intellektuelle auf ihre Weise naiv sind. Sie zeigen sich unfähig, die eigene moralische Unschuld zu relativieren und zu begreifen, daß das Leben im Sozialismus nach ganz anderen Maßstäben zu beurteilen ist. Sie interessieren sich nicht für die Biographie eines Menschen, sie sind nur immer auf der Suche nach seinen Kompromissen, seinen Schwächen, nach allem „Allzumenschlichen“, was sie bei sich selbst nicht zugeben, bei den anderen aber genüßlich registrieren. Wozu den DDR-Schriftstellern ihr Charisma nehmen?
Es ist bekannt, daß in der Bundesrepublik nach Kriegsende viele ehemalige Nazi-Beamte hohe Posten innehatten und ruhig bis zur Rente die neue demokratische Gesellschaft mit aufbauten. Die ältere Generation wollte ohnehin nichts von der Nazi- Vergangenheit hören, und erst zwanzig Jahre nach Kriegsende eröffnete die „Kindergeneration“ die Auseinandersetzung. Die Eltern blieben auch dann noch stumm und wurden — bis auf wenige Ausnahmen — mit dieser Zeit niemals fertig. Sie wollten nur eines — vergessen. Genauso wie die Ossis. Die werden aber jetzt von den moralisch überlegenen Wessis aufgefordert, Selbstkritik nach chinesischem Muster zu üben.
Bemerkenswert ist, daß auch die westliche intellektuelle Elite sich an diesen kurzsichtigen Spielchen beteiligt, am eifrigsten die sogenannte Linke. Rache an untergegangenen Utopien zu üben, scheint mir keine sehr große intellektuelle Leistung zu sein. Es liegt ziemlich klar auf der Hand, warum es in der DDR ein besonders gut entwickeltes System der politischen Überwachung gab und daß ihre Existenzform als „sowjetische Zone“ zusätzlich zur Demoralisierung und dem Verantwortungsverlust der Bevölkerung beitrug.
Die eigenartige Neurose eines Teilvolks, die es in den anderen Ostblockländern so nie gegeben hat, relativiert in meinen Augen die alltägliche „Banalität des Bösen“ und seine Institutionalisierung. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die DDR-Intellektuellen sich freisprechen dürfen. Sie sollten nur nicht ständig unter moralischen Druck gesetzt werden. Jeder entscheidet nach seinem geistigen Vermögen. Eines steht für mich fest: Die Art und Weise, wie jetzt die DDR-Vergangenheit aufgearbeitet wird, führt in die Sackgasse, zu noch größerer Resignation und zur Verfestigung der aggressiven antiwestlichen Stimmung.
Und doch ist für einen Ossi der einzige Ausweg aus der Ratlosigkeit die einsame Reise durch die Zeit, raus aus der falschen Sicherheit der fertigen Wahrheiten hinein in die moderne Zivilisation. Das heißt, er muß lernen, wie die westliche Gesellschaft funktioniert, welche Denkformen in der Moderne die angemessenen sind, warum es keine einzige, noch dazu „objektive“ Wahrheit mehr gibt und daß Individualismus nicht unbedingt eine negative Eigenschaft ist, sondern die einzige Möglichkeit, seinen Weg durch das heutige hochkomplexe Leben zu finden. Wichtig ist nicht nur, was man denkt, sondern wie man denkt. Die Komplexität der Zusammenhänge verlangt eine bestimmte Denkstruktur, und wenn man das eigene Denken nicht immer wieder überprüft, kommt man nicht weiter. Dann bleibt man auf dem Niveau jener DDR-Frau, die nach Italien reiste und sich über die vielen Ausländer am Strand entsetzte.
Die Wessis ihrerseits müssen darüber nachdenken, wie man mit dieser Zivilisationskluft umgehen könnte. Ob es sinnvoll ist, die eigenen Begriffe und Normen Menschen aufzuzwingen, in deren Leben sie noch gar keine Bedeutung haben können, oder ob dadurch nicht die Wessis immer westlicher und die Ossis immer östlicher werden. Die Feuilletonisten unserer Zeitungen, die Gegner der Ent- Honeckerisierung und Mielke-Bewältigung, die unermüdlichen Kämpfer gegen geschlagene Feinde, die sich zur intellektuellen Elite zählen, erweisen sich als Jungfrauen der Demokratie, die nicht wissen, wie es in den Diktaturen zugeht.
Eines der wichtigsten Gebiete, auf dem westliche Intellektuelle wirksam Hilfe leisten können, ist der Aufbau der Hochschulen, aber dieses Projekt scheint daran zu scheitern, daß niemand bereit ist, sich weiter als 50 Kilometer von Berlin zu entfernen. Wer geht schon in die Provinz, in der so merkwürdige, unmoderne Menschen leben. Sogar in Berlin, wo angeblich eine Elite-Universität aufgebaut werden sollte, scheiterten ehrgeizige Vorhaben an Parteirivalitäten und Intrigen. Die Hochschule müßte ein Trainingsfeld für Modernität sein, aber sie ist zum Schlachtfeld geworden, und die Kämpfe werden zu Lasten der Studenten und der Entwicklung im Osten geführt.
Das Experiment geht schief: die Mauern mehren sich. Die Deutschen sind weder „ein Volk“ noch „das Volk“. Zu hoffen ist, daß die Taucherkrankheit bald überwunden wird, denn auf Dauer kann sich die Gesellschaft Massenfrustrationen und Paranoia nicht leisten. Hysterie ist fehl am Platz. Man darf den Ossis die Moderne nicht aufzwingen, sie müssen in Ruhe gelassen werden.
Gekürzter Vorabdruck aus: Kursbuch 109, „Deutschland, Deutschland“, ab 7.9. im Buchhandel.
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