Lateinamerika ohne Collor

■ Der bevorstehende Abtritt von Brasiliens Präsident eröffnet vielfältige Chancen

Lateinamerika ohne Collor Der bevorstehende Abtritt von Brasiliens Präsident eröffnet vielfältige Chancen

Collor de Mello ist nicht der einzige korrupte Staatschef auf der Welt, und sicher auch nicht der korrupteste unter ihnen. Als er 1989 sein Amt als Präsident Brasiliens antrat, galt er sogar als Saubermann. In einer historischen Wendung hat dieser „Mister Clean“ es jetzt geschafft, eine in Amerika beispiellose Volksbewegung gegen Korruption auf die Beine zu stellen — deren vorrangiges Ziel jedoch er selber ist. Wenn Collor nun demnächst zurücktritt oder vom Parlament zurückgetreten wird, macht dies Brasilien nicht automatisch zu einem moralischeren Land. Die Korruption dort ist nicht personenbedingt, sondern strukturell. Aber es wäre das erste Mal, daß ein lateinamerikanischer Präsident wegen Korruption aus dem Amt gejagt wird. Das wäre auf einem Kontinent, der in Sachen Kapitalflucht und Primat der Selbstbereicherung weltrekordverdächtig ist, ein historischer Fortschritt.

Der Rücktritt wäre noch aus einem anderen Grunde historisch. Zehn Jahre ist es her, als mit der Bankrotterklärung Mexikos die lateinamerikanische Schuldenkrise losbrach. Ihre Bewältigung durch die internationalen Finanzorganisationen bescherte dem Kontinent einen aufgezwungenen Liberalismus, verbunden mit US-inspirierten parlamentarischen Demokratiemustern. Die Zeit der Militärherrschaft und des entwicklungspolitischen Nationalismus war zu Ende. Diese in Bolivien und Chile begonnene ökonomische und politische Strukturanpassung dauerte in Brasilien am längsten; im Grunde genommen ist sie, wie das regelmäßige gloriose Scheitern der diversen „Collor- Programme“ zeigt, noch gar nicht vollbracht. Brasilien gilt heute im lateinamerikanischen Maßstab als hoffnungslos rückständig. Vom liberalen Sanierungsmodell ist bislang nur die Massenverelendung geglückt. Erst mit dem Rücktritt Collors wäre der Siegeszug des Liberalismus auch politisch komplett. Die nächste Regierung wird weniger schlampig und skandalträchtig sein.

Wenn Brasilien wieder Anschluß an die lateinamerikanische Normalität findet, ergeben sich auch kontinentale Chancen. Wie schon der Beinahe-Wahlsieg des Linkspolitikers Lula gegen Collor 1989 zeigte, hat das Land derzeit eine lebendigere Zivilgesellschaft als die meisten anderen Lateinamerikas; die Institutionen und Organisationen, die über den IWF-Tellerrand hinausdenken, sind zahlreicher und vielfältiger.

Die Anti-Collor-Volksfeste auf den Straßen sind ungleich hoffnungsträchtiger als die verzweifelten Hungerproteste in Peru oder die populistischen Putschnostalgiker Venezuelas. Aus ihnen könnten sich neue soziale Bewegungen entwickeln, die auch Collors Nachfolger noch zu denken gäben. Eine Chance — nicht nur für Brasilien. Dominic Johnson