„Die zweite Heimat“

■ Fast 26 Stunden dauert die „Heimat“-Fortsetzung von Edgar Reitz/ Thema: Eine Jugend in München

Die Sechziger, das ist Mauerbau, die Pille, Schwabinger Krawalle, Studentenbewegung. Und das sind die Beatles, doch die gibt es bei Edgar Reitz erst zu Beginn der achten von insgesamt 13 Folgen. „Chronik einer Jugend“, so heißt der Untertitel seiner „Heimat“-Fortsetzung, und diese Jugend lebt im München der sechziger Jahre. Doch Hermann, das Hermännchen aus Schabbach, kennt die Beatles kaum. Er hört keine Popmusik. Hermann komponiert Atonales.

Am Anfang ist es befremdend, später befreiend. Reitz erzählt die Geschichte von denen, die weggehen aus Schabbach, die Geschichte vom Erwachsenwerden, eben nicht mit Hilfe der bekannten Strickmuster. Die Insignien der sechziger Jahre interessieren ihn nur am Rand. Reitz steigt von der Seite ein: Hermann ist Kompositionsschüler an der Musikhochschule, seine Freunde studieren Gesang, nehmen Sprechunterricht, um das Hunsrücker Platt loszuwerden. Aber Reitz rekonstruiert nicht penibel, wie es damals wirklich war: „Die zweite Heimat“ ist ein Märchen, pathetisch und naiv, mystisch überhöht und entsetzlich banal, im einen Moment peinlich mißlungen und im nächsten ein Meisterwerk.

Hermann und seine Freunde halten sich für Genies. Mit heiligem Ernst rezitieren sie Nonsense- Poeme, kriegen Wutanfälle, weil im Konzertraum ein undefinierbares Brummen zu hören ist. Sie bewegen sich ungelenk, haben unreine Haut, und wenn zwei miteinander schlafen, fürchten sie die Vermieterin.

In allen Gesichtern sieht man die Sehnsucht, aber man sieht auch, wie häßlich ihr Anblick sein kann. Das ist das Aufregende an Reitz' Film: In der bisher schönsten Liebesszene liefern Hermann und Clarissa sich einen unerträglich pathetischen Dialog. Aber ich habe den Verdacht, daß wir in solchen Momenten alle so reden.

Reitz' Schauspieler simulieren nicht. Salome Kammer, die Cello- Spielerin Clarissa, ist ausgebildete Cellistin. Henry Arnold, das Hermännchen, hat Dirigieren studiert. Die meisten von ihnen sind jedoch Laienschauspieler, oft sieht man, wie sie ihre Rolle spielen, und manche spielen sie schlecht. „Die zweite Heimat“ dürfte der erste Film sein, der einen deshalb so bewegt, weil die Schauspieler ihr Handwerk nicht beherrschen.

Vor den letzten Folgen habe ich Angst. Ich fürchte, dann wird Reitz uns erzählen, wie der Traum von der eigenen Besonderheit der nüchternen Erkenntnis jener albernen Selbstüberschätzung weicht. Dann werden Hermann und seine Freunde erwachsen sein. Und man wird daran denken, daß sie diejenigen sind, die heute fünfzig sind. Bürger der Bundesrepublik. Christiane Peitz