„Du wachst im ausgeräumten Zimmer auf“

Die Lage der farbigen Studenten in Rußland ist miserabel/ Neid und Rassismus herrschen in der Lumumba-Universität der Völkerfreundschaft in Moskau/ Stipendien sichern kaum das Überleben/ Mysteriöse Todesfälle/ AusländerInnen haben Angst  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

„Anderthalb Jahre noch, und dann bin ich hier weg“, erzählt Jean-Marie ohne eine Regung. Als hätte das gar nichts mit ihm zu tun. Er hat resigniert: Das Studium noch zu Ende bringen und ansonsten die Tage zählen. Sechs Jahre hat er an der Moskauer Patrice-Lumumba-Universität schon zugebracht, um Arzt zu werden. Ihm kann keiner mehr was vormachen. Aus dem Kongo stammt er, genauer, der Volksrepublik Kongo. Als er kam, waren die „Gäste aus den befreundeten Ländern“ der Dritten Welt noch gern gesehen. Offiziell jedenfalls. Heute sind sie unerwünscht, überflüssiger Ballast.

Die Lumumba-Universität war einst das Aushängeschild der sowjetischen Völkerfreundschaft — druschba narodow. Sie galt als die Kaderschmiede der Dritten Welt. Zahlreiche Partei- und Staatschefs wurden hier in der „Wissenschaft von der Sowjetbürokratie“ unterrichtet. Jetzt sind es nur noch wenige, die sich zu Semesterbeginn immatrikulieren.

Die geblieben sind, leben unter immer schlechteren Bedingungen. Jean-Marie möchte seinen vollen Namen nicht nennen. Angst? Vor wem? „Besser nicht“, winkt er ab. Fürchtet er die eigenen Leute oder die Russen? Vor kurzem wurde auf dem Campus der Universität ein Student aus Simbabwe erschossen. Der Polizist steht unter Hausarrest. Doch die offfizielle Version des Tathergangs unterstützt die Aussage des Ordnungshüters: reine Notwehr. Jean-Marie erwartet nichts von der Untersuchung. Auch die unabhängige studentische Kommission werde zu keinem Ergebnis kommen. „Alles schon gehabt“, meint er. „Wären an jenem Abend nicht so viele Studenten dabei gewesen, hätte überhaupt keiner etwas davon erfahren.“ Er tut so, als seien Überfälle auf Ausländer etwas völlig Normales: „Wie viele Vietnamesen wurden hier ermordet? Keiner spricht davon.“ Sein Freund an der Kiewer Universität zum Beispiel sei Anfang des Jahres aus dem Fenster gestürzt worden. Und das war nur ein Fall unter vielen. Alltag.

Die englischsprachige Zeitung Moscow Times berichtet am 25.8. sogar von zwei Todesfällen am Vortag, beidesmal sind schwarze Studenten betroffen. In der ukrainischen Stadt Charkow fand man einen erhängten Studenten, in Nischnij Nowgorod verbrannte der Kongolese Kota Romuald in seinem Bett — War es ein Unglücksfall, Mord oder Selbstmord? Gefährlich ist es für dunkle Ausländer in Rußland auf jeden Fall geworden. „Sie klopfen an die Tür, du machst auf, und dann werfen sie dir was ins Gesicht“, beschreibt ein Äthiopier einen, wie er sagt, ganz gewöhnlichen Vorfall. „Wenn du Glück hast, wachst du in deinem ausgeräumten Zimmer wieder auf.“

Rassismus, meinen die meisten Studenten überraschend, haben mit diesen Raubüberfällen nichts zu tun. Auch wenn sie das Gefühl haben, von den Russen nicht sonderlich geliebt zu werden: „Den Leuten geht es einfach schlecht, sie holen sich, was zu holen ist.“ Und bei den Ausländern in den unbewachten Studentenheimen ist es besonders einfach. Hilferufe nimmt die Miliz „nur ungern“ entgegen, meistens taucht sie gar nicht auf. „Zahlt ihr in harter Währung?“ soll der Wachhabende neulich gefragt haben.

Noch immer glauben viele Russen, ein Ausländer müsse wegen seines anderen Passes auch reich sein. Früher ging es den Studenten tatsächlich besser. Sie waren privilegiert, denn sie konnten in den Westen reisen und einkaufen. Vom Gewinn ließ sich dann einige Zeit leben. Seitdem die Einheimischen auch über die Grenze dürfen, das westliche Warenangebot größer geworden ist und die Fahrpreise nicht mehr nur symbolisch sind, versiegte nicht nur diese Einnahmequelle. Im Gegenteil, die Reformen haben sie am härtesten getroffen.

Vor der Botschaft seines Landes übernachtet der 25jährige Samuel aus Kenia schon den zehnten Tag — zwischen Müll und Wachmannschaft. Mit ihm protestieren noch fünfzehn andere junge Kenianer. 370 Rubel im Monat reichen gerade mal für ein paar Tomaten und ein bißchen Fleisch. Sie verlangen eine Anpassung ihres Stipendiums. Doch die Gesandten ihres Landes schenken ihnen nicht einmal Gehör. Vor elf anderen Vertretungen das gleiche Bild, den Rekord hält Uganda mit mehr als 100 Sitzstreikenden. „Sie lassen uns nicht mit unserer Regierung oder Eltern Kontakt aufnehmen“, klagt Jean-Marie und zuckt mit den Schultern. Er versteht die Engstirnigkeit nicht. Vielleicht haben sie das Geld selbst kassiert, murmelt er. Als dem Botschafter der Protest vor der Residenz zu laut wird, ruft er kurzerhand die Miliz. Sie räumt auf und schlägt zu. Doch die Studenten geben nicht auf, bis heute allerdings ohne Erfolg. „Es ist ein Teufelskreis“, stöhnt einer, „wir haben auch kein Geld, um nach Hause zu fahren.“

Trotz ihrer Schwierigkeiten erwarten sie von ihrem Gastland keine Hilfe. Die meisten wollen nur noch ihr Studium beenden und dann nach Haus. Ob sie da einen Job finden, ist allerdings fraglich. Denn mit dem Zusammenbruch des östlichen Wirtschaftssystems werden auf Sowjettechnik getrimmte Studenten immer weniger gebraucht.