Weg vom Hauptbahnhof

■ Episoden aus der norddeutschen Rechtswirklichkeit: Wie ein Zwölfjähriger der Ausbeutung durch einen Freier entkommt

: Wie ein Zwölfjähriger der Ausbeutung durch einen Freier entkommt

Zwölfjährige Jungen sind rechtlich handlungsunfähig. Sie haben natürlich eigene Rechte, über die können sie aber nicht selbst bestimmen, da müssen sich andere für sie einsetzen. Wenn dafür aber niemand da ist, fallen diese Kinder mitsamt ihren ganzen Rechten in ein tiefes, dunkles Loch. Es ist reiner Zufall, wenn sie dort jemand findet oder gar herausholt.

So können wir sie am Hamburger Hauptbahnhof sehen. Einer von ihnen war vom Lande geflohen, von seinem Zuhause abgehauen in die große Stadt. Dort lief er am Treffpunkt der Gestrandeten auf, wie es in allen Großstädten der Hauptbahnhof ist. Für diese Jungen gibt es da etwas ältere Herren, die mehr oder weniger schnell ihr Bett anbieten, auch zur Übernachtung. Es ist trocken und warm, und manchmal haben die Herren auch eine freundliche und großzügige Art, mit den Jungen umzugehen. Diese Männer sind aber nicht freundlich. Denn sie wollen etwas dafür. Die Knaben sollen ja nicht nur in ihren Betten schlafen, die Männer wollen ihre jungen Körper gebrauchen. Wer sich verweigert, braucht mit weiteren Freundlichkeiten nicht mehr zu rechnen. Im Gegenteil.

Unser Zwölfjähriger sucht einen Ausweg. Bei zwei nicht-staatlichen Beratungsstellen findet er rechtsfähige Erwachsene, die ihm helfen wollen. Beraten und beschlossen wird die Einrichtung einer Pflegestelle. Dafür ist aber das städtische Jugendamt zuständig. Und die Pflegestelle kostet Geld. Das Jugendamt stellt fest, daß der Junge nicht in seinem Bezirk, überhaupt nicht in Hamburg gemeldet ist. Also erklärt es sich für nicht zuständig.

Die Eltern, deren gesetzliche Pflicht es ist, für den Jungen zu sorgen, sind geschieden. Der Vater lebt in Hamburg (gemeldet), hat aber nicht das Sorgerecht. Das hat die Mutter, aber von da ist er ja abgehauen. So muß der Junge, soll

1die für ihn richtige Maßnahme durchgeführt werden, dahin zurück, wovor er geflohen ist. Angesichts dieser (Un-)Rechtslage will er lieber wieder abtauchen. Er kennt jetzt andere, gleich junge, die sich auch am Hauptbahnhof treffen und mit geklauten Autos durch die Gegend fahren. Das ist viel interessanter.

Den Helfern in der einen Beratungsstelle gelingt es, den Jungen zu einem Versuch zu bewegen, seine Rechte selbst einzuklagen. Er beantragt bei Gericht, das Sorgerecht für ihn auf den Vater zu übertragen, und ihm für dieses Verfahren auf Staatskosten einen Anwalt zu stellen. So etwas hat der Richter bestimmt noch nicht erlebt: Sonst streiten die Eltern über ihre Besitzrechte an den Kindern, ohne daß diese an dem Verfahren beteiligt sind. Der Anwalt wird im Wege der Prozeßkostenhilfe tatsächlich beigeordnet, sein Schriftsatz den Eltern und dem Jugendamt zur Stellungnahme zugestellt.

Und es klappt. Unter dem Eindruck des selbst sein Recht einklagenden Kindes springt die Behörde über ihren Schatten und erkennt ihre Zuständigkeit an. Die Eltern stimmen der Pflegestelle zu. Der Junge lebt jetzt sicher unter einer geheimen Adresse. Gegen den Mann, dessen Verfolgung er fürchtet, wird ein Strafverfahren eingeleitet, ein zweiter Versuch, nachdem der erste mangels Zeugenaussagen der kindlichen Opfer gescheitert ist. Jetzt ist der inzwischen 13 Jahre alte Junge – nach anderen – bereit, die ihm widerfahrenen Erlebnisse ausführlich zu Protokoll eines Jugendrichters zu geben. Ihn schrecken die Drohungen nicht mehr, denn er weiß sich Erwachsener für seine eigenen Rechte zu bedienen, auch wenn ihm das zunächst verweigert wurde.

Neulich wurde die Beratungsstelle des nichtbehördlichen Trägers geschlossen. Die Stadt hat kein Geld für sowas. Justus