"Ich will, daß er zugibt, was er getan hat"

■ Björn, 29 Jahre, überlegt, seinen Bruder zu verklagen: Als Kind wurde er von ihm vergewaltigt. Damals war Björn noch ein Mädchen. Eines, das stets ein Junge sein wollte. Inzwischen ist er auch..

Eines, das stets ein Junge sein wollte. Inzwischen ist er auch körperlich ein Mann. Mit seiner Vergangenheit hat er trotzdem noch nicht abgeschlossen.

„Ich will, daß das breitgetreten wird. Das kann gar nicht genug breitgetreten werden“. Björn* wurde als Kind sexuell mißbraucht, macht mit 29 Jahren eine Ganztags-Therapie in einer Eimsbüttler Tagesklinik. Um seiner Ohnmacht Herr zu werden, hat er sich entschlossen, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.

Björn trägt Koteletten, seine hellblonden Haare sind vorne kurz und hinten lang, wie bei Suzie Quatro in den 70er Jahren. Ein rechteckiges Silberamulett schmückt seinen Hals, die breiten Schultern unter dem blauen Sport-Shirt lassen erkennen, daß er leidenschaftlich gerne Bobybuilding macht. „Ich bin der Typ: sensibel, aber auch irgendwie kernig, burschikos“, sagt er selber von sich.

Das Ungewöhnliche an Björn: Er war als Kind ein Mädchen, ein aufsässiges, freches Mädchen, das sich in der Schule oft geprügelt hat, weil seine Mitschüler ihn „Zwitter“

1nannten. In den frühen 70ern fällt so ein Mädchen im Schulbetrieb einer ländlichen Kleinstadt nahe Münster natürlich auf. Die Lehrer schalten die Mutter ein, die wiederum den zwei Jahre älteren Bruder beauftragt, auf seine Schwester aufzupassen. Manuela, so nennen wir sie mal — Björn möchte seinen alten Namen nirgendwo mehr geschrieben sehen — , beult sich weiter, wird von ihrem größeren Bruder zu Hause verpetzt. Die Mutter verprügelt daraufhin ihre Tochter, der Bruder erhält somit Macht über Manuela. Als sie 13 ist, beginnt der Bruder, Manuela zu erpressen: Entweder du schläfst mit mir, oder ich verpetz' dich weiter. Das Mädchen läßt den erzwungenen Beischlaf über sich ergehen. Das geht drei, vier Monate so, erinnert sich Björn, „ich hab mich dann in der Schule angepaßt, daß ich nicht mehr so auffiel“. Als der Bruder mit 15 die Schule verläßt, ist das Martyrium vorbei.

„Meine Geschlechtsumwandlung hat mit der Mißbrauchsgeschichte nichts zu tun“, sagt Björn heute. Nur, daß er sich mit seinen Wünschen und mit seiner Wahrnehmung von seiner Mutter nicht ernstgenommen fühlt, das ziehe sich durch sein Leben, wie ein roter Faden. Als er als Neunjährige von einem Untermieter zum Zungenkuß gezwungen wird und es seiner Mutter erzählt, glaubt sie ihm nicht. Daß sein Vater ihn als Fünfjährige beim Kuscheln im Bett zum Felatio überreden wollte, hält er lange Zeit für einen bösen Traum: „Bis in der Therapie eine Frau von sich erzählte, wie sie als Kind mißbraucht wurde. Da wurde mir bewußt, daß das damals tatsächlich passiert ist. Plötzlich holt der sein Ding aus der Hose und will, daß ich es in den Mund stecke. Als Kind hab ich voll die Panik gekriegt, dachte, dabei geht man drauf.“

Die Gewißheit, daß sie lieber ein Mann sein will, hat Manuela schon von klein auf. Sie hat drei ältere Brüder und drei jüngere Schwestern, kommt als „Wunschmädchen“ zur Welt. Wenn ihre Mutter sie zwingt, Röcke anzuzie-

1hen, steckt sie sich heimlich Hosen in den Ranzen und zieht sich auf der Schultoilette um. Mit 15 — Manuela wächst zu einem hübschen, blonden Mädchen heran — bindet Björn sich mit einem umgenähten Hüftkorsett die Brüste ab, versucht sich die weiblichen Formen abzuhungern, wird magersüchtig. Eines Tages hört Manuela im Radio, daß es möglich ist, in Casablanca eine Geschlechtsumwandlung vornehmen zu lassen, und daß die Kassen Transsexualität seit 1980 als Krankheit anerkennen, folglich die Kosten für eine solche Operation übernehmen. Der Gedanke daran geht ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Die Lehre als Altenpflegerin in einer anderen Stadt bietet der mittlerweile 18jährigen zwar die Gelegenheit, von zu Hause wegzukommen, zehrt aber sehr an ihren Kräften: „Ich wollte den Abschluß unbedingt schaffen, war sehr empfindlich für Kritik, hab' jede Berichtigung als Rüge angesehen.“ Es geht Manuela zusehends schlechter, die permanente Verdrängung der geschlechtlichen Identität führt zu einer ernsthaften seelischen Krise.

1„Ich hab' mich selbst nicht mehr gespürt.“ Nach der Prüfung arbeitet sie noch anderthalb Jahre in einem Seniorenheim, wohnt in einer WG, wo sie eines Tages „randaliert“, wie Björn heute sagt, Möbel kaputt macht, Ascheimer umschmeißt und sich schließlich freiwillig in die Psychiatrie begibt. Die Ärzte sind ratlos, behandeln sie auf Anorexie (Magersucht). In den anderthalb Jahren Klinik-Aufenthalt traut sich Manuela nicht, etwas von ihrer Sehnsucht nach einem anderen Geschlecht zu erzählen.

Dennoch wandelt sich das Blatt ein wenig. Noch 1985 unternimmt Manuela mit 22 Jahren einen ersten Versuch, mit ihrer Vergangenheit zurechtzukommen. Es könnte ja sein, daß ihr Bruder weiter vergewaltigt, seine Frau, seine Tochter? In ihrer Wut ruft Manuela den Bruder an, hat die Ehefrau am Apparat, erzählt ihr alles. Manuela ist auf eine Geste aus, daß er zugibt, was er getan hat, vielleicht mal mit ihr einen Kaffee trinkt, „und dann reden wir darüber, was gewesen ist.“ Es gibt einen Riesenkrach. Der ehrbare Familienvater streitet alles kategorisch ab. Immerhin, die Schwester bezeugt, daß der Bruder Manuela mehrere Monate lang regelmäßig zum Geschlechtsverkehr gezwungen hat. Eine hält zu ihr!

Im Anschluß an die Psychiatrie bekommt Manuela eine Kur für psychosomatisch Kranke verschrieben. Helfen tut ihr das nicht, im Gegenteil. „Die wollten mich zur Mutti machen. Mich überreden, daß ich mir einen Mann zulege.“ Manuela ist resigniert, läßt sich treiben, arbeitet zunächst nochmal drei Monate als Altenpflegerin, dann geht sie anschaffen. „Ich hab' gedacht, ich kann meinen Körper eh nicht leiden. Dann kann ich ihn auch verkaufen.“ Um nervigen Zuhältern auszuweichen, zieht sie von Ort zu Ort quer durch die Republik, landet schließlich 1987 in einer Wohnunterkunft in Hamburg.

Schritt für Schritt verändert Manuela ihr Leben. Zunächst gibt sie ihrer Neigung zur Frauenliebe nach. Über die Telefon-Seelsorge erhält sie Adressen von Frauenberatungsstellen, fährt zur Lesbenwoche nach Berlin, begibt sich in die „Szene“. Sie trägt damals schon kurze Haare, fällt unter den übrigen Frauen als besonders kerlig auf. „Wenn mir eine vorgeworfen hat, du fickst ja wie‘n Kerl, dann ging mir das innerlich runter wie Öl.“

1Doch der Sex mit Frauen macht Manuela Angst, besonders, wenn sie eine Frau wie eine Frau lieben will. Sie hat selten längere Beziehungen, beschränkt sich auf sogenannte One-night-stands.

1989 ist es dann soweit. Manuela trifft eine transsexuelle Frau, die ihr bestätigt, daß man sich auch von einer Frau in einen Mann verwandeln lassen kann. Der Kontakt zur Transsexuellen-Selbsthilfegruppe in Hamburg ist schnell hergestellt. „‘89 war mein Gutachter- Jahr“, erinnert sich Björn. Die Selbsthilfegruppe erklärt ihr die nötigen juristischen und praktischen Schritte. Bevor das Gericht der Namensumbenennung zustimmt — der Name Manuela soll für immer gestrichen und durch Björn ersetzt werden — muß sie fünf sogenannte Gutachtergespräche am Institut für Sexualforschung der Uni-Klinik Eppendorf führen. Am Ende attestiert der Hamburger Psychoanalytiker Friedemann Pfäfflen, daß Manuela/ Björn die drei vom Gesetz vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt: 1. sie fühlt sich von klein auf dem anderen Geschlecht zugehörig, 2. sie lebt seit drei Jahren als Mann, 3. er will auch in Zukunft so leben. Die Gutachter-Prozedur dauert in Hamburg zwei Jahre, das ist vergleichsweise kurz.

„Meine erste Hormonspritze haben wir in der Selbsthilfegruppe mit Sekt begossen“, erinnert sich Björn. Er engagiert sich stark in der Transsexuellengruppe, ein Treffen im Monat ist ihm zu wenig, er regt ein wöchentliches Meeting an (inzwischen ist aus der Selbsthilfegruppe ein eingetragener Verein mit Büro geworden). Doch die Geschlechtsoperation fordert auch Vorbereitungen ganz anderer Art. „Ich mußte erstmal rauskriegen, was für ein Typ Mann ich eigentlich bin.“ Björn sucht den sozialen Kontakt zu ganz normalen Männern. Als Noch-Frau schmuggelt er sich in eine Hamburger Männergruppe ein. Um sein junges Aussehen und seinen Busen zu erklären, erfindet er eine Notlüge: Weil ihm als Kind jemand in die Eier getreten habe, würde mit seinen Hormonen etwas nicht stimmen. Die Gruppenmitglieder glauben ihm, besuchen ihn sogar später im Krankenhaus, ohne etwas zu merken. Schon lange vor der Operation wirken die männlichen Hormone. Als Björn bei seiner Mutter anruft, fragt sie, ob er heiser sei. Er ver-

1neint, sie knallt den Hörer auf. „Sei doch froh, daß du Arme und Beine hast und nicht behindert bist“, hat sie einmal gesagt. „Du mußt so bleiben, wie Gott dich geschaffen hat.“

Im Mai 1990 läßt Björn sich Brüste, Gebärmutter und Eierstöcke entfernen. Von einem künstlichen Penisersatz haben ihm die Ärzte abgeraten. Der Hautwulst könne sich leicht entzünden, außerdem seien mehrere schmerzhafte Operationen vonnöten. „Penis haben oder nicht haben, das macht doch den Mann nicht aus“, sagt er. Auch hat er ästhetische Bedenken: „Der sieht dann aus wie eine verdorbene Weißwurst, und dann kriegst du damit noch nicht mal einen hoch.“ Vielleicht, wenn die Forschung weiter sei, würde er sich das nochmal überlegen.

Solange vergnügen er und seine Freundin sich mit seinem „Mikro- Penis“, wie er sagt, der durch die Hormone leicht vergrößerten Klitoris. Das Paar ist mittlerweile

1sechs Monate zusammen. Die junge Frau hatte sich schon in Björn verguckt, bevor er beim ersten Rendezvous nach einem eher allgemein gehaltenen Gespräch über Transsexualität sein altes Paßfoto über den Kneipentisch schiebt. Manuela mit langen, gewellten Haaren und der heute noch unverkennbaren Stupsnase. An der hat sie ihn dann auch erkannt und ihm die Geschichte schließlich geglaubt. „Eine Woche später lagen wir zusammen in der Heia.“

Manche transsexuellen Männer, so seine Erfahrung nach drei Jahren Selbsthilfegruppenarbeit, kleiden sich nach der Operation in Schlips und Kragen, heiraten, adoptieren Kinder und verschwinden schnellstmöglich in der Versenkung der Normalität. Im Gegensatz zu transsexuellen Frauen, deren große Hände, tiefe Stimmen und Hang zum Bartwuchs nicht verschwinden, seien die Ex-Frauen sehr unauffällig, hätten auch weniger mit offener Diskriminierung zu kämpfen. Folglich verdrängten sie die Folgen ihres bisherigen Lebens.

Für Björn ist das so nicht möglich. Schon kurz nach der Operation verfällt er in einen hektischen Aktionismus, engagiert sich in einem Chor und diversen anderen Initiativen. Er organisiert Staatsknete für die Selbsthilfegruppe, verteilt nachts Flugblätter an die transsexuellen Prostituierten an der Großen Freiheit. „Ich hab' mich selbst nicht wichtig genommen, hab' in Gruppen immer schnell viel zuviel Verantwortung übernommen.“

Im März '91 ist Björn reif für die Therapie, wie er selber meint. Auslöser für die neue Krise: Er wird am Hafen von einem Teenager mit einer Waffe bedroht. „Danach hatte ich einen Schock weg. Dachte, ich zieh' immer die verkehrten Leute an. Das geht so nicht weiter. Nachher lande ich noch in Ochsenzoll“.

Björn entscheidet sich für die Eimsbüttler Tagesklinik, wo er seither die Werktage verbringt und ein neues Gruppenverhalten übt. „Es ist einfach nötig, die Folgen meiner Kindheit aufzuarbeiten, in der ich

1permanent daran gehindert wurde, so zu leben, wie ich mich fühlte.“ Vor einigen Monaten wurde hier die Erinnerung an den sexuellen Mißbrauch und die Wut auf seinen Bruder und seine Mutter wieder zutage gefördert. Seit kurzem geht er auch regelmäßig zur Hamburger Opferhilfe, überlegt, ob er mit deren Unterstützung juristische Schritte gegen seinen alten Peiniger einleiten soll. Auch die Mutter, die sich inzwischen an seine tiefe Telefonstimme gewöhnt hat — er hat ihr bereits ein neues Paßfoto geschickt, besuchen will er sie aber nicht —, soll vielleicht wegen Mittäterschaft verklagt werden. Ob er denn die ganze Familie ins Unglück stürzen wolle, hat sie am Telefon gefragt. Wer will das schon? Wenn der Bruder von sich aus zugeben würde, was er gemacht hat, überlegt Björn, „wenn er sagt, gut, ich hab' Scheiße gebaut“, dann würde er sich das mit dem Prozeß nochmal überlegen: „Seine Einsicht will ich haben“. Und er will, daß andere lesen, daß es nicht not tut, sich sein ganzes Leben schleifen zu lassen. Kaija Kutter

*Name von der Redaktion geändert