Fundstelle an Fundstelle

■ Gründlich, aber pointilistisch und akademisch stumpf: Christof Forderers Studie über Berliner Großstadtdarstellungen im Roman

Auch Wissenschaftler lesen. Wenn sie Germanisten sind, schreiben sie danach Sekundärliteratur auf. Wer sie dann rezensiert, macht Tertiärliteratur, Worte über Worte über Worte. Wie aber schreibt man richtig sekundär? Man lernt den akademischen Jargon und sucht sich dann ein Gebiet. Beides ist Christof Forderer gut gelungen.

Schon der Titel verspricht harte Arbeit: »Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellungen zwischen Naturalismus und Moderne«. Und die Erwartungen werden nicht getäuscht. Wer kennt Conrad Alberti, Wilhelm Bölsche und Max Kretzer, wer schmökert noch in Romanen von Fritz Mauther? Inspiriert wohl von den großen Romanen Balzacs versuchen sich diese deutschen Trivialen der 1880er und 1890er Jahre am Sujet der »Großen Stadt«. Forderer führt vor, wie man vor hundert Jahren Berlin beschrieb: als Moloch, als Sündenbabel, als Häusermeer und verelendeten Ballungsraum. Ein Chaos, das neue literarische Methoden erfordert hätte. Diese Formen aber können Alberti und die anderen nicht finden. Ihre Romane bleiben der krassen Erfahrung der Großstadt gegenüber ästhetisch hilflos. Das Neue wollen sie in veralteten Mustern deuten und darstellen. So wirken die »forcierten Erzählakte«, mit denen sie Berlin literarisch präsentieren, oft unbeholfen und ungeschlacht: »Und doch (...) — wie zwischen den endlosen Glanzpylonen der großartigsten aller Tempeleinfahrten zum Heiligtum der inneren Stadt die blutroten und goldenen Sphinxaugen der geheimnisvoll näher und näher schwebenden Pferdebahnkolosse sich erreichten, (...) da war es, als müsse alle Farbenkunst lichttrunkener Meister der Vergangenheit ersterben, verblassen vor dieser Offenbarung einer Welt voll beispielloser Energie, die alles in dem einen umfassenden Drange aus sich selbst gebar — zuletzt auch die Schönheit, nach der sie nicht gesucht.« (Wilhelm Bölsche, Die Mittagsgöttin, 1891)

Wie schön, daß man solche Romane nicht mehr lesen muß! Das ist jetzt das traurige Geschäft der Germanisten, und Forderer erledigt es für uns wirklich gründlich. Zügig beginnt er mit einem Überblick, dann reiht er geduldig Fundstelle an Fundstelle, Detail an Detail, eine Kette von Einzelbeobachtungen über Motive, literarische Strategien und Klischees. Pflichtbewußt handelt er ein Buch nach dem anderen ab und resümiert, daß auch schon vor hundert Jahren »die Basis traditioneller Weltauslegung, das souveräne Subjekt (...) merkbar erschüttert« ist.

Hat es das je gegeben, das bürgerliche Subjekt ohne Krise? Berlin in der Sicht dieser wohl zu Recht vergessenen Romanciers ist noch einmal die Fiktion einer »überschaubaren, einsehbaren Wirklichkeit«, bevor es sich im 20. Jahrhundert auflöst in einer Fülle von Beobachtungen, die nicht mehr in die Perspektive eines einzelnen literarischen Subjekts gebannt werden können. Döblins »Berlin Alexanderplatz« ist eben mehr als die bloße Geschichte von Franz Biberkopf. Forderers Problem liegt schon in seiner Methode: Im Zwang zum »wissenschaftlichen« Nacheinander wirken die Bezüge zwischen den Romanen eher dünn, und weil sich Forderer weitgehend darauf beschränkt, die literarische Umsetzung von Großstadt als Motiv positivistisch nachzuzeichnen, kann er die historische Bedeutung seiner Quellen oft nicht entschlüsseln. Dem literarischen Antisemitismus gegenüber beispielsweise bleibt seine Analyse uninteressiert und akademisch stumpf: Anstatt zu fragen, in welcher literarischen Tradition die Stereotype vom Juden als Agenten des Kapitalismus stehe, welche reaktionären Interessen solche Literatur bedient, kann Forderer nur brav eine »vormodern anmutende moralisierende Beschreibung« ausmachen, die dann »in ressentimentbesetzte Bereiche« oder in »Schablonen antisemitischer Ideologie« ganz abstrakt »mündet« — wissenschaftlicher Jargon als sprachlicher Nebelwerfer, words about words. »Er spürt«, schreibt Forderer über den Erzähler in einem seiner Romane, »eine innere Leere und führt sie auf seine positivistischen Erfahrungsmuster zurück, die ihm den Zugang zu einer sinngebenden Wirklichkeit verstellen.« Eben. Hans-Joachim Neubauer

Christof Forderer: Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellungen zwischen Naturalismus und Moderne. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1992, 308 Seiten, 56 DM

Polonius: »What do your read, my lord?«

Hamlet: »Words, words, words.«