Ein Geständnis als Notlüge?

■ Wegen Mordes angeklagter 23jähriger widerruft vor Gericht seine früheren Angaben/ Das Opfer hatte ihn in einer Homosexuellen-Kneipe kennengelernt/ Freund der Schwester soll der Täter sein

Moabit. Die Verhandlung begann mit einer Überraschung. Der 23jährige Thomas J., der vor der 31. Strafkammer des Landgerichts wegen Mordes an dem 50jährigen Lothar Goetze angeklagt ist, widerrief sein Geständnis. Nicht er habe am 3.März dieses Jahres Goetze getötet, sondern der Freund seiner Schwester, der 38jährige Wolfgang S. Fest steht, daß Goetze am 3.März in der Friedrichshainer Wohnung des Angeklagten erdrosselt worden ist, und daß der Angeklagte am Tatort war.

Ein paar Tage vor dem 3.März hatte Thomas J. das spätere Opfer in einem homosexuellen Treffpunkt am Alexanderplatz kennengelernt. Der habe ihm ein Bier spendiert, und ihn dann gefragt, ob er »mit ihm schlafen« wolle. Für eine Bezahlung von 50 Mark willigte Thomas J. ein. Sie seien zu ihm nach Hause gegangen, zum Geschlechtsverkehr aber sei es nicht gekommen: »Der hat keine Erektion gehabt.« Die 50 Mark habe ihm Goetze trotzdem gegeben, woraufhin Thomas J. gesagt haben will: »Das nächste Mal kannst du umsonst mit mir schlafen.« Sie verabredeten sich für den 3.März.

Anders als in seinem Geständnis behauptete Thomas J. gestern, er sei nicht allein in der Wohnung gewesen, als das spätere Opfer kam. Vielmehr habe er gemeinsam mit dem Freund seiner Schwester Goetze geöffnet. Den Freund und den Gast habe er allein im Wohnzimmer gelassen, um Kaffee zu kochen. Aus der Küche habe er Gepolter gehört. Daraufhin habe er nachgesehen, und Goetze habe blutend »in der Ecke« gelegen. »Der ist mir an die Wäsche gegangen«, habe Wolfgang S. gesagt. Erschreckt sei er zu Goetze hinübergelaufen, aber der sei bereits tot gewesen. Geheult habe er und gesagt: »Komm, steh uff, Lothar.« Sie hätten ihn in einen Teppich gerollt und die Wohnung verlassen.

Bei seiner Festnahme am 7.Mai in Leipzig hatte der 23jährige ein Geständnis abgelegt. Gestern erklärte er vor Gericht, er habe die Tat auf sich nehmen wollen, um seine Schwester Kerstin zu schützen. Sie habe ihm nämlich gesagt, daß sie wahrscheinlich schwanger sei von ihrem Freund Wolfgang S. Er habe geglaubt, mit einer »Körperverletzung mit Todesfolge« davonzukommen und nicht mit einer Mordanklage gerechnet. Der von dem Angeklagten beschuldigte Wolfgang S. wurde gestern als Zeuge vernommen und wies die Anschuldigungen zurück. Dem Gericht legte er einen Brief des Angeklagten an dessen Eltern vor. Seiner Ansicht nach sollten die Eltern seine Freundin, die Schwester des Angeklagten, überreden, vor Gericht zu lügen. Thomas J. hatte vor Gericht behauptet, sie kenne die Wahrheit. Seine Schwester machte aber gestern von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Der Prozeß wird am Montag fortgesetzt. rak