Wenn Anthropologie politisch wird

■ Aus Anlaß von Helmuth Plessners 100. Geburtstag am 4.9.92

Um die philosophische Anthropologie ist es zwiespältig bestellt. Zumal in Deutschland steht sie im Ruch eines metaphysisch aufgedonnerten Biologismus, der zu Rassenwahn und Blutlehre sein intellektuelles Scherflein beigetragen hat. Arnold Gehlens Hymnus auf den nationalsozialistischen Hofphilosophen Alfred Rosenberg in der Erstausgabe von „Der Mensch“ ist unvergessen. Man mag darüber streiten, ob dem Hauptwerk des brillanten Rechtskonservativen jene Akklamation äußerlich war, „bloß“ ein Kotau vor dem Geist der Zeit des 1940 erschienenen Buches, oder ob die Gedanken darin auf eine Anpreisung Rosenbergs als Vorkämpfer für die „Durchsetzung germanischer Charakterwerte“ hinauslaufen.

Der Witz in seinem Fall, der eine schablonenhafte Zuordnung verdirbt: Gehlen zog seine ordnungspolitischen Folgerungen, eine staatsautoritär getönte Institutionenlehre, aus einem kulturalistischen Menschenbild. Sonst ist es immer der Naturalismus, der als konservativ gilt. Mit dem Verweis, es gebe von Natur aus Starke und Schwache, Oben und Unten ist man seit je gern gegen die Gesellschaftsveränderer zu Felde gezogen. Sprach Adorno abschätzig von „prinzipieller Anthropologie“, so meinte er derartiges Hantieren mit „natürlichen“ Konstanten im Dienste des Status quo.

Mit der Darstellung der Anthropologie als Repressionsinstrument haben sich die Gebildeten unter ihren Verfechtern nicht befreunden können. Lehrbuchnotorisch wurde die Ansicht Odo Marquards, derzufolge die philosophische Anthropologie das Geschäft einer durch und durch menschenfreundlichen Ernüchterung betreibt: Zeitgleich entstanden mit der Geschichtsphilosophie, wende sie sich gegen deren utopistische Verstiegenheiten, die ja doch nur — und warnend weist der Finger gen Osten — diktatorisch enden würden. Dem Veränderungspathos steht das Bewahrungspathos gegenüber, wobei mittlerweile die weltanschaulichen Fronten durchaus verrutschen können. Wer gestern noch in der fortschrittsoptimistischen Überzeugung, alles Menschliche sei kulturell bedingt, den revolutionären Wandel zum „neuen Menschen“ für möglich hielt und begrüßte, der sieht heute diese Revolution sich gentechnologisch statt sozialpolitisch vollziehen und wechselt fluchtartig die Rhetorik.

„Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen“: Es war Helmuth Plessner, der 1923 unter diesem Motto seinen ersten Vorstoß in anthropologisches Gelände wagte. Plessner kam, was bei soziohistorisch orientierten Theoretikern leicht die Alarmglocken schrillen läßt, von der Zoologie her, hatte sich aber schon bald ins philosophische Lager geschlagen. Dem Versuch, den üblichen Gegensatz von Rationalismus und Sensualismus zu unterlaufen (der Buchtitel postuliert die „Einheit der Sinne“), ließ er fünf Jahre später ein Unternehmen folgen, das noch die letzten Reste des Cartesianischen Dualismus erledigen sollte: „Die Stufen des Organischen und der Mensch“.

Nicht von der Aufteilung der Lebewesen nach Körperlichkeit und Geistigkeit nimmt das Buch seinen Ausgang, sondern von der ihnen gemeinsamen „Positionalität“: Alles Lebendige, alle organischen Körper unterscheiden sich von anorganischen dadurch, daß sie ihre Grenze zum Umfeld nicht nur — äußerlich — haben, sondern sind. Sie sind gegen das Außen nicht autark, sondern führen eine sozusagen membranhafte Existenz: Um überhaupt zu sein, müssen sie aus sich herausgehen, müssen sie sich ihren Ort — nein, nicht erarbeiten, das wäre zu eng gedacht, aber: er-leben. Ihr Leben ist permanenter Grenzübergang.

Anders als bei Pflanze und Tier ist die Positionalität des Menschen „exzentrisch“, ihm fehlt die ruhende Mitte. Er agiert nicht innerhalb eines geschlossenen Systems aus Trieb, Wahrnehmung und Triebhandlung, sondern lebt in einer Vollzugswelt und einer Reflexionswelt zugleich. Daraus folgt: „Unmittelbare Verhältnisse“ sind nicht möglich, seine Stellung in der Welt ist fraglich, weshalb ihm nur der Heimatsprung in den Glauben oder in die Geschichte bleibt. Kurz: Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen. Er ist eine plastische, weltoffene Existenz, die darum einer künstlichen und von Normen durchherrschten Umwelt bedarf.

Politisch Flagge hatte Plessner bereits in seiner Schrift „Die Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) gezeigt, einem fulminanten Plädoyer für Distanz, Takt, Höflichkeit, für die Wahrung der Differenz von Privat und Öffentlich und gegen die dumpfe Nähe, gegen einen „Sozialradikalismus“ von links oder rechts. Zehn Jahre vor der Etablierung der Volksgemeinschaft auf deutschem Boden bewies das Hellsicht. Noch ohne die Terminologie des anthropologischen Hauptwerkes von 1928, doch bereits in dessen Geist, entwickelt er hier, welche sozialphilosophischen Konsequenzen sich aus der Doppelnatur eines Wesens ergeben, das „seelisch und praktisch nach zwei Seiten strebt, in die Unbewußtheit, Ursprünglichkeit, Naivität und in die Bewußtheit, in das Raffinement der Überlegung, der Selbstbeobachtung und Selbstbeherrschung“.

Von unserer gesellschaftlichen Existenz sind Rolle und Rollenverhalten nicht ablösbar. Diese Auffassung hat Plessner nie preisgegeben, gleichermaßen in schroffer Opposition zu Marx und Heidegger dort, wo ihre Kritik an Entfremdung und „uneigentlichem“ Dasein suggeriert, ein Jenseits von Zwang und Konvention sei möglich. Plessner blieb — eine Sammlung seiner kultursoziologischen Aufsätze bringt es auf den Nenner — stets „diesseits der Utopie“.

Wie ist der Mensch wirklich? Von Natur gut, urteilt die Rousseausche Linke; böse, die vom Erbsündendogma inspirierte Rechte; exzentrisch, bescheidet uns Helmuth Plessner. Im Spannungsfeld der zur politischen Indienstnahme immer aufs neue verlockenden Lehren vom Menschen liefert er den wohl anspruchsvollsten Beitrag. Seine Behandlung des Menschen als wesenhaft „offene Frage“ impliziert für die gesellschaftlichen Institutionen zunächst nur eine Konsequenz: sie so einzurichten, daß es bei dieser Offenheit bleibt. Die Fixierung eigentlichen Seins wird verweigert. „Wem das zu wenig ist“, schreibt Plessner, „und wer von der Anthropologie Anweisungen zum seligen oder auch nur Direktiven für das täglich allzu tägliche Leben erwartet, hat sich in der Adresse geirrt. Wenn Kant in der Einleitung zur „Logik“ die Menschheitsfragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? zusammenfaßt in die Frage: Was ist der Mensch?, dann weiß er die Antwort. Der Anthropologe weiß sie nicht.“ Joachim Güntner

Helmuth Plessners „Gesammelte Schriften“ erscheinen im Suhrkamp Verlag.