Kapitulation

■ Filmfestspiele Venedig: Die netten Belanglosigkeiten kommen nicht nur aus Senegal und Rumänien

Alle reden von „Heimat“. Edgar Reitz' 26-Stunden-Epos hat die Filmkritiker süchtig gemacht. Freiwillig verzichten sie auf Schlaf und Venedig-Ausflüge, um nur ja keine Folge zu verpassen — die Serie ist für die Presse nur morgens um halb neun zu sehen. Der Dallas- Effekt wirkt sich aus: Man empört sich darüber, daß Hermann die Falsche geheiratet hat, hofft auf Clarissas Coming-out, und die Berliner fiebern der Episode entgegen, in der Stefan die Kommune1 aufsucht.

Der Biennale-Wettbewerb dagegen ist bisher kaum der Rede wert. Lauter Harmlosigkeiten. Ousmane Sembènes „Guelwaar“: Die Verstorbenen einer katholischen und einer moslemischen Familie werden im Leichenschauhaus verwechselt, aber Sembène macht daraus keine Komödie, sondern einen sozialkritischen Film über Senegal. Gut gemeint und politisch korrekt, aber die Bilder bleiben belanglos. Dan Pitas „Hotel de Lux“: eine Parabel auf die Schwierigkeit, eine Diktatur zu Fall zu bringen. Kunstkino von der symbolistischen Sorte, aufwendig und lärmend inszeniert. Die Macht bleibt anonym, die Untertanen sind geknechtete Horden, und die Korruption hat ausschließlich feiste, grimassierende Gesichter. Dan Pita hat unter Ceausescu arbeiten können, im neuen Rumänien ist er so etwas wie der Filmminister; seine Ästhetik bleibt die alte. Alexander Rockwells „In the Soup“: Ein Low-Budget-Film über den New Yorker Filmemacher Rodolpho, der einen Finanzier für sein Erstlingswerk sucht, einen 500-Seiten-Schinken mit dem Titel „Unconditional Surrender“, und dabei an einen Gangster gerät, der ihm die nötigen Dollar verspricht, den naiven Träumer aber in Wahrheit für Einbruch und Autoklau einspannt. Rockwell hat Ähnliches selbst erlebt. Seine Schwarz-Weiß-Komödie lebt von Slapsticks und Selbstironie, aber ein Neuerer ist Rockwell nicht. Jim Jarmusch, der als Moderator einer TV-Nackt-Show auftritt, läßt grüßen (ab 17.9. bei uns im Kino).

Oder Claude Sautets „Un Coeur en Hiver“: Eine Geigerin (Emanuelle Béart) liebt einen Geigenbauer (Daniel Auteuil), aber der liebt nur seine Geigen. Ein Film, schön wie eine Violine. Erlesene Einstellungen, das zarte Gesicht der Béart, Kleider von Dior und Musik von Ravel. Sautet glaubt, er brauche nur den Anblick der Béart mit dem Klang des Klaviertrios zu kombinieren, um Gefühle zu wecken.

Musik im Film sperrt sich dem Medium. Oder genauer: das Musizieren. Entweder man zeigt es nicht, oder man sieht die Lüge. Anders als bei Wutausbrüchen und Leinwandküssen bleibt unverkennbar, daß Béart nicht Geige spielen kann. Vielleicht sind die Filmemacher ja neidisch auf dieses noch flüchtigere Medium. Der Reiz von Musik im Film liegt gerade darin, daß sie sich nicht simulieren läßt und die Grenzen der Fiktion sichtbar macht. Auch Edgar Reitz hat sich in „Die zweite Heimat“ dieser Herausforderung gestellt, aber bei ihm spielen sie wirklich. Und Clarissas Sehnenscheidenentzündung erzählt mir mehr von der Musik als Béarts schönes Gesicht. Christiane Peitz