Untergangsstimmung in Resteuropa

■ Ein französisches „Nein“ wird in Europas Hauptstädten als Ende der Verträge gewertet

Die FranzösInnen sind zur Urne gebeten, und Europa zittert vor ihrem demokratischen Verdikt. In den Regierungsvierteln von Lissabon bis Kopenhagen und von Dublin bis Athen herrscht Konsens darüber, daß das französische Maastricht- Referendum über die Zukunft der Gemeinschaft entscheiden wird. Ein „Nein“, so die verbreitete Prognose, „wäre das Ende“.

Die weitestgehende Konsequenz kündigte die britische Regierung an, die bis zum Jahresende den EG-Ratsvorsitz innehat. Sollten die FranzösInnen mit „Nein“ stimmen, will Premierminister Major die Maastrichter Verträge nicht einmal mehr dem Unterhaus zur Abstimmung vorlegen. Londons „Nein“ wäre damit besiegelt. Bereits nach dem Bekanntwerden der jüngsten Meinungsumfragen aus Frankreich hat Major den Rückwärtsgang eingelegt. Der Konservative, der sich im Gegensatz zu seiner Vorgängerin immer für die EG ins Zeug gelegt hatte, sagte seine Beteiligung an der Fernsehdiskussion in Frankreich ab.

Andernorts drückt sich die Nervosität ob des unberechenbaren französischen Wahlvolks vager aus. So erklärte Bundesaußenminister Kinkel: „In Frankreich geht es jetzt auch um die Zukunft Europas.“ Angesichts dieser außerordentlichen Bedeutung wünschte er „Frankreich, Europa und uns“ ein positives Ergebnis. Die Staatsministerin im Bonner Auswärtigen Amt, Seiler-Albring, ergänzte, daß bei einem „Scheitern Maastrichts wir alle zu den Verlierern gehören“. Von einem Ende des Ratifizierungsprozesses ist in Bonn jedoch nicht die Rede.

Unverhohlene Wahlhilfe leistet der spanische Regierungschef Gonzalez seinem französischen Genossen Mitterrand. Anfang der Woche trat der Spanier als Star beim Auftakt des sozialistischen „Ja“-Wahlkampfes in Straßburg auf. Als weitere Zugpferde der Kampagne wurden dort berühmte historische Figuren vorgestellt. „Er würde mit Ja stimmen“, heißt es auf mehreren hunderttausend Postkarten, auf denen Napoleon, Karl der Große, Montesquieu, Sartre oder Charles de Gaulle abgebildet sind.

In Dänemark, wo die Situation nach der Ablehnung der Maastricht- Verträge bei einem Referendum im Juni völlig unklar ist, hoffen sowohl BefürworterInnen als auch GegnerInnen auf ein französisches Ergebnis in ihrem Sinne.

Bei der EG-Kommission in Brüssel ist die Unruhe erheblich. So beklagte sich der deutsche Kommissar Bangemann bitter über die Kampagne mit der Angst vor Deutschland: Das sei „unerträglich“ und eine „ziemliche Zumutung“. Der belgische EG-Kommissar Van Miert warnte, bei einer französischen Ablehnung müßte „man wieder bei Null anfangen“. Wenn der Vertrag abgelehnt werde, gebe es „den Willen zur Einigung nicht mehr.“

Gleich reihenweise werden nach der Vorstellung des französischen Sozialisten und Präsidenten der EG- Kommission, Delors, bei einem „Nein“ die Politikerköpfe rollen. Er selbst kündigte für diesen Fall seinen Rücktritt an. Denn er wisse nicht, wie er das zerschlagene Porzellan wieder zusammenfügen solle. Anstelle der bisherigen EG-PolitikerInnen sollten „Altstalinisten, Gaullisten, Anarchisten, Grüne und Rechtsradikale das Ruder übernehmen, schlug er in Anspielung auf die kurios zusammengewürfelte französische Anti-Maastricht-Front vor.

Über Rücktrittsdrohungen und Untergangsprognosen hinaus scheint es weder am Sitz der EG in Brüssel noch in irgendeiner der europäischen Hauptstädte Szenarios für den Fall eines französischen „Neins“ zu geben. Es ist unklar, ob nachverhandelt, neuverhandelt oder gar nicht mehr verhandelt werden soll. Stur wird an dem alten Maastricht- Fahrplan festgehalten: Ratifizierung bis zum 31. Dezember.

Das Gegenteil von Untergangsstimmung herrscht bei Maastricht- GegnerInnen in ganz Europa. So auch bei den OrganisatorInnen der deutschen „Eurotopia-Gruppe“, die sich aus Grünen, Altlinken und BürgerrechtlerInnen zusammensetzt. „Wenn die Franzosen mit „Nein“ stimmen, wird es endlich auch in Deutschland zu einer EG-Diskussion kommen“, frohlocken sie. Dorothea Hahn