Tod durch Beziehungslosigkeit

■ Den Kirchen laufen die Gläubigen davon/ Christen werden zu kühlen Rechnern und treten aus

Daniel Hofmann gehört auch zu den Taufschein- Christen, die nur noch zögern, wann sie der Kirche den Rücken kehren. Aus reiner Sozialromantik, sagt der 30jährige Museumsangestellte, sei er noch Mitglied der Evangelischen Kirche. Die Kirche, meint Hofmann, habe einen Apparat wie die Bundeswehr, den eigentlich niemand mehr brauche; kulturhistorisch wertvolle Gebäude könne man auch mit Stiftungen erhalten. Wie Daniel Hofmann geht es vielen: Sie erleben die Kirche nur noch als überflüssige Kostenstelle auf dem Lohnstreifen. Zu den Inhalten des Traditionsunternehmens haben sie keinen Bezug mehr. Oft ist es nur das schlechte Gewissen, karitativen Einrichtungen mit dem Austritt die finanzielle Basis zu entziehen, oder die Hemmung, mit einer Familientradition zu brechen, die sie daran hindert, beim Amtsgericht den Austritt zu beantragen.

In West-Berlin ist aus dem säkularen Austrittstrend, um neun Prozent der Lohnsteuer zu sparen, eine regelrechte Flucht aus den unbeweglichen Kirchen geworden. Mehr Christen als je zuvor verließen im vergangenen Jahr die sinnstiftende Organisation. 16.309 Austritte mußte die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg für das Jahr 1991 verbuchen. Rein rechnerisch wären das drei von 170 Gemeinden in Berlin. In Ost-Berlin und den neuen Bundesländern ist die Säkularisierung weiter fortgeschritten: Gerade sieben Prozent aller Bürger der Ex-DDR sind überhaupt in der Evangelischen Kirche. Werner Wiedrat, Gemeindepfarrer in Gethsemane, hat seit 1990 sogar das Gegenteil beobachtet: »In meinen Gottesdiensten sehe ich laufend neue Gesichter. Vermehrte Austritte sind mir nicht aufgefallen«.

Im Westen bleibt selbst die Katholische Kirche, jahrzehntelang verhältnismäßig unempfindlich gegenüber dem laizistischen Zeitgeist, von der Austrittswelle nicht verschont. Im vergangenen Jahr waren es 8.601 Westberliner, die ihren Austritt erklären. Damit wird offenbar, was Sozialwissenschaftler schon lange wissen: Die Kirchen haben in den letzten beiden Jahrzehnten ihre gesellschaftsbestimmende Rolle verloren, die Religion ist zu einer Provinz des Lebens geworden. Jetzt, am Ende des 20. Jahrhunderts, ist auch der Überhang an Tradition verbraucht, der viele Formalchristen wenn nicht im Gottesdienst so doch in der Institution Kirche hielt. Im Konkurrenzkampf unterschiedlichster Lebensstile und -welten verliert die Kirche, nur langsam kann sie sich neuen (postmodernen) Lebensformen anpassen.

Rüdiger Schloz, Religionssoziologe der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), hat sich auf die Massenaustritte in seiner Kirche spezialisiert. In den fünfziger und sechziger Jahren habe es kaum Kirchenaustritte gegeben. Selbst die Austrittswelle 1968 sei relativ schnell verebbt. Jetzt sei zwar der Solidaritätszuschlag für die neuen Bundesländer der Anlaß, doch hinter dem Austrittsphänomen, analysiert Schloz, verberge sich ein gesellschaftlicher Wandel: »Der Kirchenaustritt ist nicht mehr tabuisiert und es ist nicht mehr selbstverständlich, Mitglied der Kirche zu sein.« Besonders in Großstädten, wo der Individualisierungsprozeß sich besonders »radikal« vollzogen habe, sei die Kirche nur noch eine Organisation unter vielen.

Der Analyse des EKD-Experten kann Eckhart Wragge, seit 1974 Pfarrer der Zehlendorfer Pauluskirchengemeinde, nicht widersprechen: »Die Kirche wird einfach abgewählt«. Als Bischof Scharf 1974 Ulrike Meinhof besuchte, gab es in seiner Gemeinde auch eine Austrittswelle. Damals habe man das als »Gesundschrumpfung« hingenommen. Er und seine jungen Kollegen glaubten, daß die Kirche gesellschaftspolitisch mitreden müsse und deshalb auf 11.000 Mitglieder pro Jahr schon verzichten könne. Heute würde sogar der Konsistorialpräsident von einer »bedrohlichen« Lage sprechen. Die treulosen Christen würden einfach »rechnerisch« Bilanz ziehen und fragen: »Was habe ich persönlich von den 700 Mark Kirchensteuer pro Jahr?« Nur selten kennt Eckhart Wragge die Ausgetretenen persönlich: »Die sterben einfach den Tod der Beziehungslosigkeit«. Rüdiger Soldt