DEBATTE
: Bosnien und der Pazifismus

■ Für die Neubestimmung der Aufgaben einer Weltinnenpolitik

DDas Grauen des serbischen Faschismus macht Besonnenheit schwer. Davon zeugt auch die Forderung nach „polizeilicher“ Intervention, die selbst in den Reihe der Grünen erhoben wurde. Aber wer die KZ-ähnlichen Lager freikämpfen will, würde das Leid ins Unermeßliche eskalieren. Invasion, Landkrieg, Terroranschläge europaweit — noch mehr zivile Opfer, Tausende toter Soldaten. Selbst die Herren Kinkel und Rühe haben sich nach Konsultation mit den Militärs entschlossen, vom bewaffneten Eingreifen abzurücken. Scheinbar bestätigt sich ein breiter Konsens für die Ablehnung militärischer Gewalt. Was aber, wenn die Militärs einen geballten Schlag für relativ risikoarm erklärt hätten? Hätte ein Pazifist dann auf die mögliche Rettung von KZ-Häftlingen verzichten dürfen, um sein Prinzip zu retten? So zugespitzt stellt sich die Frage. Ein Friedensbewegter, der einen Militäreinsatz aus Gründen der Praktikabilität ablehnt, bedient sich selbst subtil schon militärischer Kategorien. Das trifft auch auf die Befürworter einer bewaffneten Flankierung von humanitärer Hilfe zu.

Krise des Pazifismus

Deshalb: Der Pazifismus steckt in einer Krise. Gemeint ist nicht der primär religiös motivierte Gesinnungspazifismus als individuelle Haltung. Gemeint ist auch nicht der romantische Pazifismus der ökologischen Nischenkultur. Ihm fehlte schon immer ein Begriff von Außenpolitik. Gemeint ist der politische Pazifismus, der seinen Gehalt aus der Verarbeitung historischer Katastrophen gewinnt. Er stand Pate, als die Grünen sich „gewaltfrei“ nicht „gewaltlos“, nannten. Damals wurde darauf gepocht, den Freiheitsbegriff einzubeziehen. Es ging darum, klarzustellen, daß die Ablehnung der Gewalt eine freie, bewußte Entscheidung war — vollzogen auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Sie enthielt die Weigerung, einer neuen deutschen Großmachtpolitik zu dienen, als Rädchen im Kalten Krieg zu funktionieren, den atomaren Holocaust mit herbeizuführen, den armen Ländern den Willen der Reichen aufzuzwingen. Dieses Bekenntnis zur Gewaltfreiheit war kein Dogma sondern eine schlüssige Antwort in einer bestimmten historischen Konstellation. Angesichts einer völlig veränderten Lage müssen aber die Voraussetzungen dieser Antwort überprüft werden, um ihre Geltung auch für die Zukunft zu beweisen.

Manche Kritik an dieser Überprüfungsarbeit geht deshalb fehl. Die Phrase, daß „Krieg nicht mit Krieg“ zu beantworten sei, kappt eine nötige Debatte. Sie blendet ohnehin die Gegenbeispiele aus. Vietnams Einmarsch in Kambodscha, um das millionenfache Morden der Roten Khmer zu stoppen; Tansanias Einmarsch in Uganda gegen den Massenmörder Idi Amin. Das mörderische Naziregime war nur durch die alliierte Militärinvasion zu stoppen. Und es ist fatal, wenn die pazifistische Haltung sich dadurch legitimiert, daß sie die Greueltaten von Bosnien relativiert, indem sie den Faschismusbegriff dafür ablehnt.

Viele pazifistische Ideen zielen am Kern des Bosnienkrieges vorbei, können die Gewalt nicht an der Wurzel bekämpfen. Eine noch so wirkungsvolle Flüchtlingshilfe, die auch wir Grünen mitorganisieren, mildert höchstens Kriegsfolgen. Die soziale Verteidigung basiert auf Rationalität des Aggressors und ist bereit, Territorien zu opfern, um Menschenleben zu retten. Sie muß aber versagen, wenn — wie in Bosnien — erklärtes Kriegsziel die physische Vernichtung eines Volkes ist, um Raum für das eigene zu schaffen.

Nach dem Ende der atomaren Blocklogik stehen wir vor dem doppelten Problem, daß längst überwundene Konflikte wieder hochkommen — Nationalismus, ethnischer Verdrängungskampf — und daß die Sieger der Blockkonfrontation, die Nato und OECD-Staaten, kein globales Friedenskonzept besitzen. Im Gegenteil, die Pax Americana bindet jede Konfliktlösung eng an US-amerikanische Interessen.

Für eine Weltinnenpolitik

Gefordert ist eine neue grüne Außenpolitik. Sie wird in die Konzeption einmünden, die die Grünen für eine „ökologisch-solidarische Weltwirtschaft“ bereits entwickelt haben. Wenn die Völkergemeinschaft als Weltgesellschaft und die Regelung ihrer Beziehungen als Weltinnenpolitik begriffen wird, dann stößt jede Diskussion bald auf die Frage einer demokratisch legitimierten internationalen Sanktionsgewalt. Heute spricht vieles praktisch gegen diese Utopie. Ein kleines Land wäre durch die Sanktionsgewalt zur Räson zu bringen, aber eine Großmacht? Wer hätte sich zutrauen können, die USA zu zwingen, das Haager Verdikt wegen der Verminung nicaraguanischer Häfen anzuerkennen? Dennoch, an der Verwirklichung dieser Utopie führt kein Weg vorbei; die Alternative wäre der Rückfall in Nationalstaatlichkeit oder die Anerkennung einer globalen Führungsmacht. Die kann Europa sowenig sein wie die USA. Europa beweist im Bosnien-Krieg, daß ihm jegliche, die Politik leitende Ethik fehlt. Die faschistische Mörderbrut kann sich sicher fühlen, solange nationale Interessen ein striktes Embargo verhindern und sie darauf hoffen darf, nach ihrem „Endsieg“ und einer Schamfrist als Handelspartner umarmt zu werden.

In einer rechtlich geregelten Weltinnenpolitik kehren die Fragen wieder, die wir aus der nationalen kennen. Wer in seinem zivilen Leben angegriffen wird, darf sich wehren. Ein Volk, das von einer Diktatur blutig unterdrückt wird, darf dagegen aufstehen — auch mit Waffengewalt. Aufstände in der „Dritten Welt“ haben wir unterstützt. Warum sollen Notwehr- und Nothilferegelungen dieser Art nicht ins internationale Recht einer Weltinnenpolitik eingehen? Warum sollen ausgerechnet hier Antifaschismus und Pazifismus — sonst in einem Atemzug genannt — einen unüberbrückbaren Widerspruch bilden?

Auf internationaler Ebene hieße diese Frage: Darf und muß die Völkergemeinschaft einem Volk (auch einer Volksgruppe), das vernichtet zu werden droht, in Notwehr helfen? Wenn ethische Einwände nicht relevant sind, stellt sich die praktische Frage nach Form und Mitteln. Der „Fall“ bedarf der Feststellung durch die verfaßte Völkergemeinschaft. Sie muß Form und Mittel bestimmen. Sie kann auch darüber befinden, ob eine Beteiligung von deutschen Menschen nutzt oder schadet. Diese weitgehende Übertragung von nationalen Souveränitätsrechten an eine völlig reformierte UNO verlangt geradezu die Abschaffung des Hauptsymbols des Nationalstaates, die eigene Armee. Das gilt für eine Berufsarmee wie für eine aus Wehrpflichtigen. Sie wirft aber die Frage nach demokratischer Kontrolle der neuen Kraft auf. Politischer Pazifismus wäre so neu zu definieren: Verzicht auf nationalstaatliche Größe und Kriegsführungsoptionen in Staatenbündnissen, politischer Kampf für eine ökologisch-solidarische Weltwirtschaft und eine demokratische Neuordnung multilateraler Institutionen, Kampf gegen Waffenexporte und für allgemeine Abrüstung.

Der Entwurf einer konkreten Utopie erleichtert vielleicht auch die Entscheidung über das „Inzwischen“. Aufgabe der Grünen ist und bleibt es, die militärische Logik durch eine zivile zu ersetzen. Ein militärisches Eingreifen in quasi polizeilicher Funktion ist daran gebunden, daß die Institutionen einer zivilen Weltgesellschaft zumindest in Umrissen deutlich sind. Heute ist davon wenig zu sehen. Wer heute mit einem Ad-hoc-Einsatz von Militär liebäugelt, darf sich nicht damit begnügen, daß Militär als historische Altlast verfügbar ist. Er muß seinen latenten Begriff von Militärpolitik explizieren und der Diskussion aussetzen. Wer heute für Militäraktionen plädiert, tut das unter der Herrschaft anderer Interessen und Ordnungsvorstellungen. Er läuft Gefahr, von der herrschenden Logik aufgesogen zu werden, statt sie zu durchbrechen. Unser politischer Pazifismus kann auch in Bosnien etwas bewirken, wenn wir von den europäischen Regierungen die Durchsetzung einer vollständigen Blockade und die Ächtung der Milosevic's als Kriegsverbrecher und Verbrecher gegen die Menschlichkeit verlangen. Wenn sie sich sperren, hilft — bei aller Verzweiflung — ...nichts. Ludger Volmer

Im Bundesvorstand der Grünen