„Barbarische Moslems gegen christliche Georgier“

In Suchumi, der Hauptstadt der „Sowjetrepublik Abchasien“ wird der „Nationalitätenkonflikt“ unterschiedlich interpretiert/ „Krieg der Religionen“ oder: „Diktatur gegen Demokratie“/ Dem Krieg haftet etwas Artifizielles an  ■ Aus Suchumi K.-H. Donath

Verzweifelte Mütter werfen sich über die Leichname ihrer Söhne. Notdürftig bedecken Tücher ihre zerschundenen Körper. Man nahm sich wenig Zeit, um mit den Toten pietätvoller umzugehen. Nicht einmal Särge konnte man in Suchumi auftreiben. Klagegeschrei erfüllt die Luft, während Soldaten zwanzig Tote aus der Ladeluke des Flugzeugs hieven. Stunden haben die Familien schon auf dem Rollfeld gewartet. Jetzt ist auch die letzte Hoffnung verflogen.

Einige hundert Meter weiter warten Freiwillige und mobilgemachte Georgier auf ihren Abtransport ins Kampfgebiet. Die meisten sind guter Laune. Handgranaten baumeln an ihren Brusttaschen. Die Kalaschnikow legen sie ungern aus der Hand. Nur der Offizier macht eine sorgenvolle Miene. Seine Anweisungen sind kurz und knapp. In Suchumi wartet kein Empfangskomitee auf die Neuankömmlinge. Selbst der LKW, der sie ins Hauptquartier bringen soll, muß erst aufgetrieben werden. Kaum eine Menschenseele ist auf der Straße. Als versperrte ihnen die subtropische Fauna den Zugang. Gewaltige Kakteen und Palmenwedel säumen die Trasse wie eine Burgmauer, dort tummeln sich sonst Abertausende von Touristen.

Doch von ihnen ist keiner geblieben. Die Einheimischen verstecken sich in ihren Wohnungen, verlassen sie nur, um das Allernotwendigste zu besorgen — Brot. Vielmehr gibt es auch nicht. Das Leben steht still, es herrscht Krieg. Dennoch haftet ihm etwas Artifizielles an, als sei das ganze improvisiert.

Im Garten des Hauptquartiers hockt der Kommandeur der georgischen Nationalgarde unter einem ausladenden Kastanienbaum. Um ihn herum sitzen „seine“ Soldaten. Sie mögen ihn, er hat etwas von einem Stammesvater. Es wird Abend, die Befehle werden ausgegeben. Denn Krieg findet in Suchumi nur in der Nacht statt. Schüsse tagsüber stammen aus den Läufen gelangweilter Soldaten, die an nichts anderem als ausgedienter Wehrtechnik spielen können. In PKWs rasen sie durch die Stadt, Gewehrläufe hängen aus den Fenstern. Manchmal findet sich auch ein fahrtüchtiger Panzer, mit dem es dann über Blumenbeete geht. Direkt gegenüber verbleicht ein Relikt aus Sowjetzeit: „Frieden — Erholung — Jugend“.

„In ein und demselbem Haus kann nicht der eine Bruder Georgier, der andere Abchase sein“, erklärt der Kommandeur die Anwesenheit seiner „Jungs“ in Abchasien. Ihm scheint das „nicht logisch“. Zwischendurch reicht ihm ein „Neuer“ seinen Wehrpaß — ein Adschare und Moslem. „Trotzdem hält er zu uns“, sagt der Kommandeur mit Genugtuung. Er nimmt es als Beleg gegen die haltlosen Vorwürfe vom „georgischen Nationalismus“ seitens der Abchasen. Wenn man wolle, könne man auf der Stelle dem Krieg ein Ende machen. Nur die Verluste wären groß und es sei schließlich georgischer Boden, der zerstört würde.

Zum ersten Mal seit 200 Jahren verteidigen Georgier ihre eigenen Grenzen und nicht die eines Okkupanten. Das mag erklären, warum so viele Freiwillige zur Front strömen, daß der provisorische „Staatsrat“ in Tbilissi schon Gegenmaßnahmen treffen will.

An diesem Wochenende versammelten sich die georgischen Afghanistan-Veteranen, um ebenfalls an die Front zu ziehen. Einige von ihnen sind schon da. Wie Datu, der seit über sieben Jahren von einem Kriegsschauplatz zum andern reist. Er ist Anfang dreißig und gehört den Truppen des Innenministeriums an. Datu und Wachtang sind Elitekämpfer, die ihre Ausbildung in der Ukraine erhielten.

Datu hebt das Glas nach einem Exkurs in die heimische Geschichte. Er dreht sich zu dem kleinen Altar, den sie in der Ecke des Zimmers eingerichtet haben. Ein Glas mit Öl, Streichhölzern, Zigaretten und Kerzen, ein Photo ihres gefallenen Kameraden, gestern war es. „Ein Arteriendurchschuß, Gij ist verblutet.“

Aus den Hotels wurden Kasernen

Diese Nacht darf ich in dem freigewordenen Bett schlafen, denn alle Hotels in Suchumi wurden zu Kasernen umfunktioniert. „Heute kämpfen wir nicht“, meint Datu, „bei uns ist religiöser Feiertag, der Tag...“ — der heiligen Mutter Gottes, helfe ich ihm weiter. Seine Erklärung hat er schon gefunden. Der Krieg ist ein Feldzug gegen die barbarischen Moslems, die das christliche Georgien bedrohen. Das müsse man doch überall auf der Welt erkennen.

Einen ähnlich versteckten Hilferuf hört man häufig in Georgien. Eigentlich sollen die Truppen des Innenministeriums die Ordnung in der Stadt bewahren. Marodeure nutzten die Wirren, um zu plündern. Während Datu noch seinen nicht enden wollenden Toast hält, ertönen Schreie von der Straße. Die Stadtbibliothek brennt. Das ist Sache der Feuerwehr.

Die Front verläuft im Norden Suchumis an der Mündung des Gumkista. Die Brücke ist vermint. Auf der anderen Seite sitzen Abchasen und Nordkaukasier in einem Hochhaus mit Granatwerfern. Nur liegend kann man sich an die sechzig Zentimeter hohe Betonwand vorrobben, die den Fluß abschirmt. Die Bewohner der dahinterliegenden Häuser sind geflohen. Etwa 50 von ihnen hausen im Kellertrakt einer sowjetischen Generalsvilla. Die meisten sind Russen und Armenier. Ihre Version der Ereignisse unterscheidet sich erheblich von dem, was der Parlamentarier Mgaloblischwili aus dem Umkreis der „Notstandsregierung“ als Linie ausgibt. Die Flüchtlinge geben allein den Georgiern die Schuld. „Keinen Abchasen haben wir gesehen. Georgier haben uns überfallen und ausgeraubt. Eine Leiche liegt noch im Garten.“ Sie sind verzweifelt, denn keiner, auch nicht die provisorische Verwaltung, kümmert sich um sie. Einige Tage noch dann verhungern wir“, sagt eine alte Frau mit tränenerstickter Stimme.

Am liebsten hätte der Fahrer ihr den Mund verboten. Doch die Frau redet weiter: „Was für nette Leute. Überhaupt keine Nationalisten. Gestern kamen sie und haben ihnen alles geraubt“, erzählt die Georgierin über befreundete Abchasen. „Was haben sie mit unseren gemacht, in Gudauta?... Sie vertrieben und die Häuser unter sich verteilt“, entgegnet der Fahrer immer ärgerlicher. Sie duzen sich, kennen sich also. Aber sie will das Prinzip nicht einsehen: Auge um Auge... Das christliche Georgien. Schließlich begraben sie das Thema in der Trivialität: Krieg ist Krieg. Doch ihre Zweifel hat die Frau behalten. Sie wird nicht die einzige sein, die den Sinn dieses Mordens nicht begreift.

Auf „Stalins Datscha“, dem Sitz der Übergangsregierung hoch über dem Meer, ist man bemüht, den Konflikt als einen Kampf zwischen Demokratie und Diktatur darzustellen. Nationale Motive spielten keine Rolle. „Was wollen die Abchasen mehr? Sie haben doch alles! Eine Universität, Fernseh- und Rundfunksender, eigene Schulen und Zeitungen“, meint Ardsimbas Gegenspieler Tamas Nudareschwili. Immerhin verfügten sie über 28 Sitze im Parlament, stellen aber nur 17 Prozent der Bevölkerung. Die Georgier mit knapp der Hälfte aller Einwohner Abchasiens müsse mit 25 Mandaten zufrieden sein. „Hat das nicht etwas mit Apartheit zu tun?“ Eine Minderheit diktiert. So sehen es alle Georgier. Und Ministerpräsident Ardsimba ist der „Extremist“, der im Interesse der reaktionären Kräfte in Moskau Georgien destabil halten will.

Seine Parteigänger gehören der konservativen Fraktion „Sojus“ an. Sie ist der Moskauer Vorposten in Suchumi. Kürzlich verabschiedete das Parlament, ohne sich an die Zweidrittelmehrheit zu halten, den neuen Namen der kleinen Republik: Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Abchasien. „Zeigt das nicht genug?“, fragt Nudareschwili. In dem Moment trifft ein Marineoffizier mit der Meldung ein. „Im russischen Hafen Suchumi ist ein Schiff mit kaukasischen Freischärlern Richtung Georgien aufgebrochen...“ Die Russen mischen also doch mit? Kein Georgier ließe sich vom Gegenteil überzeugen.