Isch liebe eusch

Michael Jackson im Ostberliner Jahn-Stadion  ■ Von Thomas Groß

Am Alexanderplatz verläuft sich vieles, aber Michael- Fans erkennen einander. Es ist auch nicht allzu schwer: Goldene Brustgürtel, Schnallenjacken, weiße Handschuhe und Hosen mit Streifennaht bevölkern die U-Bahnsteige in jeweils unterschiedlichem Annäherungsgrad zum Vorbild. Ein paar Stationen weiter, am Ostberliner Jahn-Stadion angekommen, habe ich bereits zwanzig Michael Jacksons beiderlei Geschlechts gesehen. Manche scheinen sich ein wenig zu genieren. Nicht wegen Michael, sondern weil die Eltern mitgekommen sind.

Das Original kommt allein. Schweren Schrittes stapft es durch einen langen, öden, dunklen Gang, ein wenig wie Rudi Völler in der Isostar-Reklame. Alle hoffen, daß es auch wirklich das Original ist, denn erstmal ist da nur ein Video am Bühnenrand, das in rasch geschnittenen Bildern die Geschichte von der einsamen Ankunft des Superhelden erzählt. Außerdem weiß man bei Michael Jackson nie so recht. Philipp Roser, mein Lieblingskorrespondent von der dpa, hat es in seiner unnachahmlichen Art auf den Punkt gebracht: „Ein geradezu mystischer Schleier des Ungewissen umgibt den 33jährigen.“

Der will sich auch noch nicht lösen, nachdem die Figur endlich durch einen unsichtbaren Mechanismus aus der Unterwelt des Stadions auf die Bühne katapultiert worden ist. Jubel setzt ein, doch er bleibt unsicher und verhalten. Jackson bewegt sich nicht. In heroischer Pose erstarrt, reckt er seinen Arm gen Himmel, als sei er Moses, der ein göttliches Zeichen von oben erwartet. Es kommt auch so ähnlich, aber doch ganz anders: Langsam nimmt der Mann, der Michael Jackson sein soll, mit dem freien zweiten Arm die dunkle Sonnenbrille von den Augen, sucht den Blickkontakt mit der Masse, bevor — von einem Augenblick zum anderen — die Musik einsetzt und der Tanz beginnt: „Go with it, go with it — Jam!“, der Opener von der „Dangerous“-Platte, nicht gerade sein stärkstes Stück. Doch das Publikum rast, weil es schlagartig begreift, was geschehen ist: Es hat mitgeholfen, eine Trickfigur, einen Golem zu animieren. Jetzt erst ist er der richtige, echte Michael Jackson.

Ein tiefer Griff in die Zauberkiste gleich zu Anfang. Von da an ist es einigermaßen gleichgültig, wie sich die Realitäten von Bühne und Bildschirm zueinander verhalten, offenbar sind sie ja beide zu bedienen wie ein Videospiel. Jeder ist auf magische Weise ein wenig Michael, was wiederum Jackson am allerbesten weiß. In straffer Choreographie reinszeniert er seine bekanntesten Clips. Zombie-Tänzer humpeln zu „Thriller“ über die Bretter, bei „Bad“ werden böse Straßenkämpfer zum Guten bekehrt, „Billie Jean“ hat die bekannten Moonwalk-Tanzeinlagen, die vom Breakdance geklaut sind. Alle paar Stücke deuten die riesigen Stoffbahnen, die die Bühne einrahmen, ein anderes Segment virtueller Realitäten an: ein überdimensionales Augenpaar für die Liebeslieder, Zwanziger-Jahre-Art-Deco- Prohibitions-Ambiente bei „Smooth Criminal“, schließlich eine riesige Weltkugel, die — zusammen mit einer Instrumentalversion von „We Are The World“ — auf „Heal The World“ einstimmt, Jacksons jüngste Weltversöhnungshymne. Auf Video läßt er die Kindlein zu sich kommen, streicht ihnen über den Kopf, während er auf der Bühne die Arme ausbreitet und (auf deutsch!) „Isch liebe eusch“ ins Mikrophon haucht.

Jackson-Gesten haben etwas unerträglich schlichtes. Niemals überschreiten sie die ästhetische Komplexität einer Ziernaht, den Symbolismus eines weißen Handschuhs. Und sind doch alles andere als „natürlich“. Die gesamte 21/2-Stunden- Show ist bis ins Detail festgelegt, schon der elektronischen Kameras wegen. Von Spontaneität, gar „Authentizität“ keine Spur, selbst der notorische Griff ans Geschlecht, der in Minutenabständen wiederholt wird, ist bei näherem Hinsehen so zeichenhaft starr wie eine Plastik von Jeff Koons. Kein Zweifel, Michael Jackson hat den Sex eines Pinocchio. Und trotzdem: man mag es nicht glauben, daß alles nur „verlogen“ ist, nicht einmal, wenn man selber schon so alt ist wie er. Gerade die Radikalität, mit der das Püppchengenie Jackson in seinen hermetischen Kitschkosmos abdriftet, hält den Glauben wach, hinter all diesen Hollywood-Phantasien eines kunstvoll gebleichten Mannes stecke am Ende doch ein tiefer Ernst. Wer sagt denn, daß er nicht wirklich die Welt heilen will? Und bloß nicht so recht weiß, wie es geht? Er ist eben bloß ein Entertainer, der sein Bestes gibt und dabei alles auf die eine Karte setzt: but the little girls understand.

Wer mit Pop zu tun hat, der weiß, daß das zum Allerschwersten gehört. Zur (funktionierenden) Magie eines Michael-Jackson-Konzerts gehört auch, daß der Mann einem leid tut. Es hat etwas Tragisches, wie dieser 33jährige Milliardär dazu verurteilt scheint, ewig die Phantasien von Teenagern auszuagieren. Wo er doch am liebsten auch mal seine Ruhe hätte. „Aus mancherlei Gründen fühle ich mich alt, ich fühle mich wirklich wie ein Veteran“, schreibt er in seiner Autobiographie „Moonwalk“, und man glaubt ihm das ohne weiteres.

Am Ende des Konzerts entschwebt er mittels eines düsengetriebenen Rucksacks in den Nachthimmel, während er auf den Bildschirmen zu einer Art Mann im Mond wird. „Ladies and Gentlemen, Michael Jackson has left the stadium“, kommentiert eine pathetische Stimme diese letzte Verwandlung, und es klingt ein wenig, als sei der Star, der gerade noch vor unser aller Augen so tolle Kunststücke vorgeführt hat, tatsächlich gerade gestorben. Exitus gewissermaßen.

Mann im Mond, gut und schön, sagt man sich da, aber ist dort überhaupt sein Affe bei ihm? Und sein Lama? Wenn ich ein kleines Mädchen wäre (was ich gelegentlich bin), ich glaube, ich hätte geheult.