Ans Ende der Liebe

Leander Haußmann startet mit „Clavigo“ in Berlin  ■ Von Sabine Seifert

Man hat nicht unrecht daran getan: Leander Haußmann, der junge Theatermann aus Weimar, den sich das glücklose Berliner Schiller Theater ans Haus geholt hat, als wolle es ihn von seinem schnellen Ruhm kurieren oder seinerseits von den Erfolgen profitieren, ist ernster geworden. Oder schlicht etwas älter, denn wer älter wird, spart. Und wer sparsam arbeitet, verpulvert seine Mittel nicht mehr so schnell. Komik statt Gags, verhaltenerer Manierismus und ein Konzept, das durch die richtige Besetzung der Hauptrollen mit Steffi Kühnert (die Haußmann aus Weimar mitgebracht hat) und Oliver Stern (aus dem Ensemble des Schiller Theaters) aufging. An diesem Abend hat sich im Schiller Theater seit langem mal wieder etwas bewegt.

Prolog, wie er nicht im Buche steht: die Bühne als Black box, in undurchdringliches Dunkel getaucht. Vom Schnürboden senkt sich ein helles Passepartout herunter, und aus dem Hintergrund taucht ein Mann auf, gekleidet in der Tracht der bürgerlich-höfischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Der Mann ist von kleinwüchsiger Statur, er schmaucht eine Zigarre, schwingt sich auf den Rahmen und läßt die Füße nach vorne baumeln. So sitzt er halb im Bild und setzt die Zuschauer ins Bild von der Geschichte, die sie gleich in epischer Breite nacherleben dürfen. Das Bild hinter ihm färbt sich tiefrot ein, ein einziger großer Raum wird sichtbar. In der hintersten Ecke steht eine Frau, summt das „Heideröslein“, atmet schwer. Das ist Marie (Steffi Kühnert).

Eine betrogene Frau, die ihr Leid exzentrisch werden läßt. Was sie selbst nicht mehr aushält, geht als Hagelregen auf ihre Umgebung nieder, eher komisch als grausam. Maries Bewegungen sind katzenhaft, sie steht unter Strom. Springt ihrem Bruder Beaumarchais (Gerald Fiedler) beim Wiedersehn mit einem Satz an den Hals und auf den Arm, dreht sich mit ihm stumm vor Freude zur Musik. Als später der ehemalige Liebhaber zu ihr kommt, der sie hat fallenlassen, versenkt sie sich kopfüber ins Sofa. Auftritt Clavigo (Oliver Stern).

Ein Ehrgeizling, heißt es, der seine Freundin der Karriere als Schreiber am Hofe opferte. Ein Karrierist aus Mangel an Gelegenheit, aus Faulheit, weil sich ihm bisher nichts in den Weg gestellt hat. Weich und biegsam wie Wachs, so dynamisch wie von der Hitze geplagte Fliegen, eine träge Masse Fleisch, die Clavigo mit kindlichem Gemüt zu Markte trägt. Der Mann will keinen Ärger. Da ihn Maries Bruder unter Druck gesetzt hat, kommt er wie ein täppischer Bär mit einem großen bunten Geschenkkarton mit roter Schleife an. Marie windet sich unter einem Tuch, das sie sich über das Gesicht gezogen hat, um ihn nicht sehen zu müssen. Seine Reue, ihre Vergebung werden aus tiefster innerer Not regelrecht geboren, unter hysterischer Anteilnahme der anderen.

Die Familie und Freunde Maries sind — mit Ausnahme des konventionsbewußten Bruders — Kriecher, Schleimer, Spinner, vor allem aber verklemmte Menschen, die ihre eigenen Enttäuschungen und Sehnsüchte mit Bitternis auf Marie abwälzen. Buenco (Dirk Nocker), der sie so verzehrend liebt, daß er rein gar nichts an ihr übriglassen würde. Ein hysterisch kichernder Schwager, Guilbert (Stephan Baumecker), der immer alles schon gewußt haben will. Die Schwester Sophie (Katja Paryla), die selbst in Clavigo verliebt gewesen zu sein scheint. Marie ist der lebendige Mittelpunkt einer innerlich ausgebrannten Gesellschaft.

Was einmal passiert ist, ist nicht wiedergutzumachen. Clavigo ist reumütig zwar zu ihr zurückgekehrt, aber jetzt ist es Liebe aus zweiter Hand, aufgewärmt. Darum tanzt Clavigo dann mit Carlos (Matthias Brenner), seinem Freund, einen neckisch-täppischen Tanz: „Dance me to the End of Love“ heißt der Song, zu dem sie ihre Tangoschritte wagen. Die Stimme des Interpreten klingt wie dereinst die von Leonhard Cohen. Carlos redet auf Clavigo ein, wie ihm die Partie mit der Französin Marie am spanischen Hofe zu schaffen machen werde, spielt ihm regelrecht vor, wie schlecht die anderen von ihm reden werden. Clavigo scheint unter der Beweislast der (wunderbar komisch) imitierten Stimmen geradezu zusammenzubrechen — Carlos zieht dem massigen Mann schlicht den Stuhl unter dem Hintern weg, damit er ans Denken und Handeln kommt.

Das Drama geht jetzt schnell vonstatten. Clavigo verläßt wiederum Marie, er verreist. Sie verzehrt oder viemehr verbrennt sich und stirbt. Der Bruder rächt Marie, als Clavigo zurückkehrt. Der unterliegt im Duell mit Beaumarchais. Alle bereuen.

Epilog, wie er nicht im Buch steht: Clavigo kehrt zu Marie zurück, mit einer Handvoll Luftballons, die ihnen alsbald entgleitet. Traumsequenz eines Sterbenden. Die beiden tanzen, eine Puppe, die das Brautkleid trägt, wird mitgeschleift. Clavigo schleppt sich zu seinem Schreibpult, füllt ein Papier, bedeckt damit den Körper der Geliebten und murmelt ein stetes „Nimm mich mit“. Das Hohngelächter der anderen wird immer stärker, seine Bitte redet immer lauter dagegen an. Ein Untoter, bis Maries Schwester Sophie einen Revolver nimmt und mehrere Schüsse in Clavigos Körper jagt. Die verbleibende Gesellschaft tanzt. Die Toten sind vergessen. Die Liebenden auch. Hätte man sie überhaupt gewollt?