: Dunja Melcic: Willkür von Menschenfressern
■ Zur Replik von Lothar Baier (taz vom 22.8.92)
Wenn ich Lothar Baier richtig verstehe, hätte man nicht „bis zum Ausbruch der jüngsten Kriege (...) warten müssen“, um den Bankrott der „kritischen Intellektuellen“ zu verkünden. Da wäre es doch interessant zu wissen, auf welchen Zeitraum er diesen Bankrott datieren würde. Oder meint Lothar Baier, daß Intellektuelle überhaupt ohne Kapital sind, weshalb sie auch nicht bankrott gehen können? Ich meine nicht, daß es darum gehen kann, was die Intellektuellen — objektiv (?) — sind oder nicht sind, sondern nur darum zu überprüfen, ob sie ihrem eigenen Anspruch genügen.
Hierzulande mögen die Kriterien, nach denen ich das Handeln der Intellektuellen — das heißt sein Ausbleiben — beurteile, rigoristisch anmuten. Dieser „Rigorismus“ erklärt sich aber aus der Tradition, in der ich im Nachkriegskroatien aufwuchs: einer Tradition, in der Dichter und Schriftsteller, Ärzte und Wissenschaftler gegen Nazis und Ustascha auch die Waffe in die Hand nahmen. Die Literaten dieser Epoche gehören nicht zur Weltliteratur, aber ein junger Poet wie Ivan Goran Kovacic, der zunächst Gedichte des Zorns über die Massaker der Ustascha an der serbischen Bevölkerung Kroatiens schrieb, um dann als antifaschistischer Kämpfer von den serbischen Tschetniks bestialisch ermordet zu werden, gehört zu jenen geistig-symbolhaften Figuren, die das Bewußtsein meiner Nachkriegsgeneration nachhaltig geprägt haben.
Lothar Baier behauptet, ich hätte meinen Text aus Wut geschrieben. Traurig und zornig bin ich in der Tat über die Mißstände in dieser Welt, auch wenn es um das Elend in Somalia oder um die ökologischen Verwüstungen auf unserer Erde geht. Ich schreibe aber über Dinge, bei denen ich mich auskenne. Und das ist die Lage in Ex-Jugoslawien. Dazu gehört auch das Handwerk, das ich erlernt habe: das argumentierende Schreiben. Argumente werden dadurch, daß sie appellativ vorgetragen werden, nicht gleich zu Deklamationen. Emotionslosigkeit führt nicht zwangsläufig zu Erkenntnisgewinn — wie Lothar Baier ihn bei György Konrád (vgl. taz vom 9.8. 92) auszumachen glaubt. Die Nähe Westeuropas zum Kriegsschauplatz sei ihm bedeutungslos, aber György Konrád ist Lothar Baier eben wegen der Nähe ein zuverlässiger Zeuge, den er gleich zu einem „sachkundigen Anrainer der Kriegsregion“ promoviert. Demnach müßten Russen oder Deutsche die geeignetsten Sachkundler in baltischen Angelegenheiten sein. Konráds allgemein unverbindliche Auslassungen über die Selbstbestimmungs- und Minderheitsrechte von Völkern mögen Soziologen diskutieren — seine konkreten Behauptungen über die Rechtslage in Ex-Jugoslawien sind schlicht falsch.
Das Selbstbestimmungsrecht ist tatsächlich kein Freibrief für seine uneingeschränkte Ausübung. Dem hat die föderale Ordnung im ehemaligen Jugoslawien Rechnung getragen. So ist keinem der Völker das absolute Selbstbestimmungsrecht zugestanden, es ist vielmehr an den sechs Republiksgrenzen gebrochen worden. In Belgrad wird aber schon seit einigen Jahren das Selbstbestimmungsrecht der Serben unter Mißachtung der historisch-staatlichen Einschränkungen absolut, das heißt expansionistisch ausgelegt. Das Völkerrecht beinhaltet nicht, daß Angehörige eines Volkes nirgendwo und niemals zur ethnischen Minderheit gehören dürfen. So löst sich das Konrádsche Rätsel von einem „europäischen Mund“ und angeblich zwei verschiedenen „Melodien“.
In Bosnien-Herzegowina heißt das: Die Kroaten und die Serben haben das legitime Recht auf Gleichberechtigung mit der stärksten Volksgruppe, den Muslimen, aber sie können kein Recht auf eine Selbstbestimmung haben, die den einzigen Staat der slawischen Moslems in Frage stellen und somit die Existenz dieses Volks bedrohen würde. Die ethnischen Verhältnisse in Bosnien-Herzegowina sind Ergebnisse der Geschichte, zu ihnen gehört auch, daß Bosnien-Herzegowina eine historisch-rechtlich über Jahrhunderte gewachsene territoriale Einheit ist, auf die weder Serbien noch Kroatien Anspruch erheben können.
Ich denke nicht in Kategorien von Völkern, von „lieben“ und „bösen“ Völkern schon gar nicht. Ich glaube auch nicht, daß es schnelle „politische“ oder „militärische“ Patentlösungen für diese Krise gibt. Ich weiß aber, daß es, wenn Europa und seine Intellektuellen nicht das Recht außerhalb ihrer Wohnzimmer verteidigen, im Balkan nur eine „Lösung“ geben wird: In diesem Land hat man ihr den Namen „Endlösung“ gegeben. Wer wegen des Fehlens schneller Lösungen bereit ist, den anderen Teil Europas in einem Zustand der Rechtlosigkeit und Willkür von Menschenfressern zu überlassen, der wird an seinem „kühlen Kopf“ bald heiße Ohren bekommen.
Lothar Baier erzählt uns von der Unmöglichkeit, die Seiten und die Lager in diesem Krieg zu erkennen. Er suggeriert Ratlosigkeit, weiß aber gleichzeitig, daß es sich um einen Bürger- und Stammeskrieg handelt, in dem alle gleichermaßen töten und foltern. Sarajevo aber wird belagert von ein paar zehntausend verrückten, überrüsteten Großserben, während in der Stadt selbst noch an die achtzigtausend Serben leben und zum Teil in führenden Positionen an der Verteidigung teilnehmen. Mit der irreführenden Perspektive des „ethnischen Konflikts“ werden nicht nur alle beteiligten Nationen als kriegerische Stämme abgestempelt, damit wird auch das ganze serbische Volk mit der kriminellen Vereinigung großserbischer Phantasten gleichgesetzt.
So denken auch immer mehr durch die Brutalität und Vernichtungswut des Krieges radikalisierte Kroaten und Muslime. Mir ist weit genauer als Lothar Baier oder Peter Glotz (vgl. taz vom 21.8. 92) — zum Teil aus erster Hand — bekannt, was kroatischer- und muslimischerseits an vermeintlichen und tatsächlichen Gewaltakten begangen wird. Ich vermag das nicht zu entschuldigen, aber zu begründen und einzuschätzen. Ich weiß, daß selbst radikalisierte Kroaten und Muslime eine „europäische“ Lösung auf rechtlicher Grundlage einer „balkanischen“ Lösung vorziehen würden. Meine Sorge gilt der sich verfestigenden Gewißheit, daß Europa und sein Gewissen diese Menschen in ihrer Verzweiflung alleinlassen.
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