Von einem, der auszog und das Fürchten lernen mußte

■ Bemerkungen des jüdischen Regisseurs Emanuel Rund über einen Aufenthalt in Göppingen und seinen Film „Alle Juden raus“

Am 15. Juni 1992 eröffnete die Stadt Göppingen ein jüdisches Museum, das sich in einer alten evangelischen Kirche befindet, die zuvor viele Jahre keine Verwendung mehr gefunden hatte. Zur Eröffnung waren unter anderem der Innenminister von Baden-Württemberg, Frieder Birzele, Landesrabbiner Joel Berger aus Stuttgart, Prof. Dr. Utz Jeggle aus Tübingen und der Bürgermeister Hans Haller eingeladen. Meinen Film „Alle Juden raus“ wollte die Stadt Göppingen anläßlich der Eröffnung nicht zeigen; auch wurde ich nicht zur Feier eingeladen. Hier zeigt sich wieder das alte Problem, daß zwar einerseits an das Schicksal der Juden erinnert, andererseits versucht wird zu verdrängen, unbequemen Fragen aus dem Weg zu gehen. Nämlich: Was war wirklich los, damals, 1933 bis 1945, in einer deutschen Kleinstadt namens Göppingen?

Ich habe in den USA Filme gedreht, in den achtziger Jahren machte ich mich in New York, Washington und Jerusalem auf die Suche nach Überlebenden des Holocaust. Viele Verwandte aus meiner Familie sind darin umgekommen. Ich wollte mehr wissen über deutsche Juden, ihr Schicksal im Dritten Reich und über das KZ Theresienstadt, wo meine Großeltern gewesen sind. So traf ich in New York auf Inge Auerbacher, die Theresienstadt als Kind erleiden mußte. Mit sieben Jahren wurde sie deportiert. Als eines von wenigen Kindern überlebte sie das KZ. Auch Inges Eltern konnten befreit werden.

Ich wollte einen Film über sie machen. 1988 klappte dieses Vorhaben. Inge wurde gemeinsam mit ihrer Mutter und dem Sohn des letzten Rabbiners von Göppingen, Herrn Tänzer, zur 50jährigen Erinnerung an die Pogromnacht eingeladen. So konnte ich meine Idee verwirklichen, den Film mit Schülern aus Göppingen zu machen, die sowohl mit jüdischen als auch deutschen Zeitzeugen Interviews führen. Als Gesprächspartner fand ich den damaligen Chef der Feuerwehr, der von der Nacht erzählt, in der die Göppinger Synagoge in Brand stand, und Herrn Birzele (Vater von Frieder Birzele), der im Finanzamt arbeitete und Mitglied der NSDAP sowie der Feuerwehr gewesen war.

Die Dreharbeiten zu dem Film dauerten bis Juni 1990. Er wurde mehrfach prämiert (Filmfest München, Friedensfilmpreis der Internationalen Filmfestspiele Berlin, „Silver Hugo“ des Internationalen Filmfestivals Chicago). Er erhielt in Deutschland das Prädikat „besonders wertvoll“. Im letzten Wettbewerb für den Acadamy Awards wurde er für den „Oscar“ nominiert.

Nach Fertigstellung des Films schrieb ich einen Brief an den Bürgermeister der Stadt Göppingen, Herrn Haller, und teilte ihm mit, daß ich meinen Film über Göppinger Juden von 1933-1945 vorführen könnte. Die Antwort kam prompt: Bitte nicht! Im vergangenen Mai traf ich in New York Inge Auerbacher wieder, und sie erzählte mir, daß die Stadt einige Göppinger Juden zur Eröffnung des jüdischen Museums eingeladen hat. Ich war sehr überrascht, daß man mich nicht informierte, obwohl ich einen Film über Göppinger Juden gemacht hatte und auch einen kurzen Film über das Museum drehen wollte. Inge Auerbacher rief bei der Stadtverwaltung an und erkundigte sich, ob mein Film gezeigt werde. Die Antwort lautete: Nein. Frau Auerbacher und Herr Rohrbacher setzten sich energisch für die Vorführung ein. Als ich wieder in München war, bekam ich die Einladung, den Film zu zeigen.

Die Plakate waren plötzlich verschwunden

In diesem Zusammenhang wurde ich auch nach Filmplakaten gefragt, da man in der ganzen Stadt Werbung machen wollte. Die Vorführung sollte am 16. Juni stattfinden. Ich erkundigte mich, ob ich nicht einen Tag früher anreisen könnte, um an der Eröffnung des Museums teilzunehmen und Video- und Fotoaufnahmen zu machen. Die Antwort war, daß es leider keinen Platz mehr gibt. Als ich mitteilte, daß es mir sehr wichtig sei, die Eröffnung zu dokumentieren, zeigte man sich bereit, einen Platz für mich zu finden. Doch als ich ankam, war alles reserviert, so daß ich auf dem Balkon Platz nehmen mußte. Auch Herr Rohrbacher, gebürtiger Göppinger, der jetzt in den USA lebt und nur zur Eröffnung angereist war, bekam einen Platz unter der Treppe, von wo aus man sehr wenig sehen konnte.

Während der Feier wurde die Vorführung meines Filmes am nächsten Tag mit keinem Wort erwähnt. Auch war in der Stadt kein einziges Filmplakat zu sehen. Ich hängte daraufhin selbst Plakate auf. Am Eröffnungsabend des Museums fragte ich Innenminister Birzele, ob er zur Vorführung meines Filmes kommen werde. Er wußte nichts von der Vorführung. Ich wollte, daß er den Film ansieht, weil sein Vater als einer der Zeitzeugen darin auftritt.

Die Filmvorführung war sehr gut besucht. Herr Birzele war auch anwesend; er sagte mir im Anschluß, daß es ein sehr guter Film sei.

Für mich ist ein problematischer Umstand, daß das jüdische Museum in einer alten ausgedienten evangelischen Kirche in der kleinen Stadt Jebenhausen, ganz in der Nähe von Göppingen untergebracht ist. Schon 1988, als ich mit den Arbeiten zu meinem Film begann, war bekannt, daß ein jüdisches Museum eingerichtet werden sollte, weil die jüdische Bevölkerung die Stadt mitgegründet und industrialisiert hatte und sich auch darüber hinaus für die Stadt sehr verdient machte. In meinem Film kritisierte ich den Umstand, daß das Museum gerade in einer ehemaligen Kirche untergebracht wird. In der Stadtmitte neben dem leeren Synagogenplatz steht bis heute das ehemalige Rabbinerhaus; nur das gehört heute dem Finanzamt Göppingen. Ich fragte, warum man das jüdische Museum nicht im Rabbinerhaus in der Stadtmitte unterbringe... Ich weiß, daß es viele Leute wohlwollend meinen; sie versuchen etwas Gutes zu tun, und gehen dabei sehr naiv vor. Sie verstehen nicht, daß es für uns Juden schwierig ist, unsere heiligen Dinge in einer christlichen Kirche untergebracht zu sehen.

Ich denke aber auch, daß es Leute gibt, die nicht wollen, daß in der Stadtmitte von Göppingen ein jüdisches Museum steht. Vielleicht würden dann zu viele Menschen Fragen stellen und wissen wollen, was in Göppingen in den dreißiger Jahren passiert ist. So sehen viele das Museum lieber weiter außerhalb der Stadt, obwohl das Rabbinerhaus der Stadt Göppingen gehört.

Als ich im November 1988 in Göppingen Recherchen für meinen Film machte, fielen mir am 9. November in der Innenstadt viele Fahnen und geschmückte Geschäfte auf. Es wurden die 50jährigen Geschäftsjubiläen gefeiert. Die Parallele von 50 Jahren Jubiläum und 50 Jahren Pogromnacht empfand ich als sehr zynisch. Ich machte Fotos vom Schmuck und von den Fahnen. Dabei wurde ich gesehen, und ich weiß, daß man den Bürgermeister verständigte, der daraufhin alle Fahnen verschwinden ließ. Am nächsten Tag war alles weg. Das Problem ist, daß immer noch versucht wird, alles unter den Teppich zu kehren. In meinen Augen müßten die Jugendlichen aber erfahren, was damals passiert ist, um mit dem Problem entsprechend umgehen zu können.

In Gesprächen mit Jugendlichen erzählten mir viele, daß wenn sie in anderen Ländern miteinander deutsch sprechen, andere auf sie zeigen und „Nazi“ zu ihnen sagen. Wenn ich frage, was sie dann gemacht haben, sagten sie, sie seien weggelaufen. Ich sage: Warum? Ihr seid doch keine Nazis! Dann kommt die Antwort, sie wüßten darauf keine Antwort zu geben. Andere erzählten, daß sie versucht hätten zu diskutieren, aber die Engländer oder andere hätten den Eindruck erweckt, daß sie über den Nationalsozialismus besser informiert seien. Meiner Ansicht nach müssen deutsche Jugendliche über die Vergangenheit aufgeklärt werden, und sie müssen die Wahrheit auch von den Deutschen erfahren, nicht nur von den Juden. Es gibt einige Deutsche, die sich um Erinnerungsarbeit bemühen, die beispielsweise auch Filme über die Vergangenheit und die heutige Wirklichkeit machen. Aber das ist noch nicht genug, und selten laufen diese Filme in den Kinos deutscher Städte oder im Fernsehen.

Auf dem Plakat meines Films „Alle Juden raus“ und auch im Film selbst ist ein Bild aus den dreißiger Jahren zu sehen, das marschierende NSDAP-Mitglieder zeigt. Im Hintergrund erkennt man die zum Teil schon arisierten Geschäfte der Hauptstraße. Eine Zeitung wollte dieses Bild abdrucken. Doch das wurde von der Stadt verboten. Erst nachdem mein Film in Göppingen gezeigt wurde und für wenigstens eine Woche im Kinoprogramm lief veröffentlichte eine Zeitung das Foto in Zusammenhang mit einem Interview mit mir.

Das ist eben das Problem in Deutschland: es gibt viele Leute, die versuchen, kluge Arbeit zu leisten. Andererseits gibt es auch viele, die zwar vorgeben, Aufklärungsarbeit zu leisten, die aber in Wirklichkeit eher vertuschen wollen. In meinem nächsten Film möchte ich Jugendliche aus der Stadt Leer mit Enkeln von Leeraner Juden, die heute in Israel, Amerika und vielen anderen Ländern leben, zusammenbringen.

Die Verwirklichung dieses Filmvorhabens erfordert jedoch große finanzielle Mittel. Es ist im Augenblick sehr schwer, in Deutschland Fördermittel bewilligt zu bekommen. Auch im Kulturbereich scheint die deutsche (Wieder-)Vereinigung das kaum erwachte Interesse an deutsch-jüdischer Vergangenheit und Zukunft wieder erlahmen zu lassen. Dabei wären gerade Gelder für deutsch-jüdische Filmvorhaben eine lohnende Investition in eine gemeinsame Zukunft.

Südwest zeigt „Alle Juden raus“ heute um 22.45 Uhr.