piwik no script img

Polens Sejm vertagt „Entkommunisierung“

Das Gesetz über die „Säuberung des öffentlichen Lebens“ sieht vor, daß BürgerInnen, die bestimmte politische Funktionen innehatten, von der Besetzung öffentlicher Stellen ausgeschlossen werden  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

Am vergangenen Wochenende konnte in Warschau ein innenpolitisches Erdbeben, das einigen hunderttausend Bürgern den Verlust ihres Arbeitsplatzes und ein jahrelanges Berufsverbot gebracht hatte, vorerst vertagt werden. Die Abgeordenten des polnischen Sejm hatten sich nach stundenlanger Debatte dafür entschieden, die Gesetzesinitiativen über die „Säuberung der öffentlichen Lebens“ an die Parlamentsausschüße zu verweisen.

Der Gesetzentwurf, der den unschuldigen Namen „Über die Vorbedingungen bei der Besetzung einiger Positionen in der Republik Polen“ führt, und der eine weitgehende „Entkommunisierung“ des öffentlichen Lebens in Polen vorsieht, war bereits vor wenigen Wochen vom polnischen Senat dem Parlament vorgelegt worden.

Dem Entwurf zufolge sollen polnische Bürger, die seit 1944 eine auch nur mittlere Funktion in der kommunistischen Partei, der Polizei und Geheimpolizei, einigen Organen der Streitkräfte oder im Zensuramt eingenommen haben, von der Besetzung zahlreicher öffentlicher Stellen bis hinunter zum stellvertretenden Schuldirektor ausgeschlossen werden.

Dies soll insbesondere für ehemalige Stasi-Agenten gelten. Der Versuch des Senats, diese Entkommunisierung auch auf die Offiziere und Generäle der Armee auszudehnen, führte dazu, daß Verteidigungsminister Janusz Onyszkiewicz für den Fall der Annahme des Entwurfs durch den Sejm mit seinem Rücktritt drohte. Nach seiner Ansicht würde ein solches Gesetz zu einer Paralysierung der Streitkräfte führen, da die Offiziere, die dann den Dienst quittieren müßten, nicht ersetzt werden könnten.

Das Senatsprojekt hat eine ganze Flut ähnlicher Entwürfe ausgelöst, mit denen sich nun das Parlament am Wochenende in erster Lesung beschäftigte. Die Gesetzentwürfe der Zentrumsallianz, der Christnationalen, der Gewerkschaft Solidarnosc und der Konföderation Unabhängiges Polen decken sich in den meisten Punkten und sehen ein Berufsverbot selbst für Personen vor, die nur Sekretär einer Basisorganisation der PVAP waren.

Sie könnten praktisch keine leitende Funktion im Staatsapparat mehr einnehmen. Dies gilt indessen nicht nur für die Funktionäre der PVAP, die zuletzt an der Macht waren, sondern für alle Aktivisten seit dem Jahre 1944. Damit wären von den meisten Dekommunisierungsprojekten auch Politiker der Solidarnosc-Bewegung und der demokratischen Opposition betroffen, die ihre Ansichten bereits vor Jahrzehnten geändert haben und seither für die Reform oder den Sturz des kommunistischen Systems gearbeitet haben. So könnte etwa Prof. Bronislaw Geremek nicht einmal mehr stellvertretender Schuldirektor, Bürgermeister, Fernsehdirektor oder Mitglied in der Führung einer Staatsbank werden.

Lediglich der Entwurf der Liberalen sieht vor, die Dekommunisierung auf ehemalige Stasi-Agenten zu beschränken, die heute noch in leitenden Staatsorganen sitzen. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, sich zurückzuziehen. Tun sie das nicht, werden die über sie vorliegenden Informationen veröffentlicht und ein Prozeß in Gang gesetzt, der in eine gerichtlich überwachte Entlassung münden soll.

Der Entwurf der Gewerkschaft Solidarität sieht darüber hinaus nach deutschem Vorbild die Bildung eines Lustrationsarchivs ähnlich der Gauck-Behörde vor: Jeder Bürger soll die Möglichkeit erhalten, Einblick in seine Akten zu nehmen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen