„Keiner glaubt, daß wir vergewaltigt wurden“

Muslimische Frauen berichten über Vergewaltigungen durch serbische Soldaten/ Zu den physischen und psychischen Wunden kommt die Scham der Opfer: Viele denken, daß sie für den Rest ihres Lebens gekennzeichnet sind  ■ Von Roy Gutman

„Sie nahmen ein Messer und schlitzten mein Kleid auf“, beginnt die 18jährige Almira Ajanovic stockend zu erzählen. Fünf Nächte lang ist sie in ihrem Heimatdorf Liplje von serbischen Soldaten vergewaltigt worden. Von drei Männern jeweils. Zwei preßten sie auf das Bett in dem improvisierten „Bordell“, während der dritte sie vergewaltigte. Und dann wechselten sie die Positionen, bis sie durch waren. Fünf Nächte lang ging das so, immer mit anderen Männern. In der sechsten Nacht steigerten sie die Erniedrigung noch. Sie vergewaltigten Almira vor den Augen ihres Vaters. Danach führten die Soldaten ihren Vater in die Toilette und hängten ihn dort am Nacken und an den Beinen und Händen auf. Nachbarn retteten ihn 24 Stunden später. „Ich konnte meinem Vater einen Monat lang nicht mehr ins Gesicht sehen“, sagt Almira. „Noch heute kann ich darüber nicht mit ihm reden. Ich schäme mich sehr.“

Liplje, ein überwiegend von Muslimen bewohntes Dorf in der Nähe von Zvornik im Osten Bosniens, zählte rund 500 Einwohner. Als Ende Mai serbische Truppen Liplje besetzten, wurde fast jede Frau im Ort vergewaltigt, bestätigt Melika Kreitmayer, die in der gynäkologischen Abteilung des Krankenhauses von Tuzla die Gruppe leitet, die sich um die Vergewaltigungsopfer unter den Flüchtlingen kümmert.

In Liplje waren einige der Vergewaltiger aus Serbien, aber die meisten waren serbische Bewohner des Dorfes selbst, berichten die Frauen. Ziba Hasanovic, wie Almira 18 Jahre alt, wurde in der zweiten Nacht der serbischen Besetzung in das behelfsmäßige „Bordell“ gebracht. „Noch in dieser Nacht wurde ich von einem Mann vergewaltigt, der mir meine Jungfräulichkeit genommen hat. Und dann noch von drei weiteren.“ Tagsüber hat sie in der Küche des „Bordells“ gearbeitet, Brot gebacken, erzählt sie. „Wir wurden behandelt wie Sklaven. Nur in zwei Nächten wurde ich nicht vergewaltigt. Ich kenne alle Männer, die es taten. Mit Namen. Es waren meine Nachbarn.“

Fast alle der Frauen, die in der Klinik von Tuzla betreut werden, haben Familienangehörige verloren, ihren Vater, ihre Brüder, und auch die materielle Basis ihres Lebens. Nur wenige wissen, wo sie hingehen sollen. Und die Vergewaltigungen haben ihr Selbstbewußtsein erschüttert. „Wenn sie hier ankommen, ist ihr Trauma noch nicht vorbei“, sagt Dr. Kreitmayer. „Viele von ihnen sind schwanger geworden. Im Krankenhaus führen wir dann hormoninduzierte Abtreibungen durch.“

Zu den physischen und psychischen Wunden kommt die Scham der Opfer hinzu. „Die Frauen kommen aus ländlichen Gebieten, vorehelicher Geschlechtsverkehr ist dort streng verboten“, erklärt Melika Kreitmayer. „Die meisten glauben, daß sie für den Rest ihres Lebens ruiniert sind. Und das ist auch das Ziel der Vergewaltigungen: die muslimischen Frauen zu erniedrigen, sie zu beleidigen und ihre Persönlichkeit zu zerstören.“ Sie ist überzeugt, daß „diese Frauen nicht wegen des ,männlichen Instinkts‘ vergewaltigt wurden, sondern weil Vergewaltigungen ein Kriegsziel sind.“

Auch die jungen Frauen denken, daß sie ihr Leben als Mütter und Ehefrauen verloren haben. „Von den Flüchtlingen, mit denen wir jetzt zusammen sind, glaubt keiner, daß wir dazu gezwungen wurden“, sagt die 18jährige Sevlata Ajanovic. „Die denken, daß wir wieder mit den Serben gehen werden. Heiraten ist für uns nicht mehr als normale Sache vorstellbar. Der Mann wird immer mißtrauisch sein.“

Eine von Almiras besten Freundinnen, die 17jährige Nezira Fahric, hat die Besetzung von Liplje nicht überlebt. „Meine Tochter wurde erwürgt“, berichtet ihre Mutter Hanifa im Krankenhaus von Tuzla. Für die Gynäkologin hat sie es auf einem Stück Papier aufgeschrieben. „Wir fanden sie auf der Couch, mit ihren Armen an ihrem Hals. Sie haben sie vergewaltigt und erwürgt. Es waren vermutlich unsere Nachbarn. Sie war sehr schön. Sie hatte gerade die Schule fertig.“

Der Autor ist Korrespondent der amerikanischen Zeitung „Newsday“.

Übersetzung: Bert Hoffmann