DEBATTE
: In Bosnien hilft Pazifismus nicht weiter

■ Bei Völkermord ist bewaffnete Notwehr erforderlich

Deutsche Politiker sinnen zur Zeit besonders intensiv über neue Verwendungsmöglichkeiten für die Bundeswehr out of area nach — selbstverständlich nur unter UNO-Aufsicht. Die Schmach, beim glorreichen Golfkrieg gegen Saddam nicht dabeigewesen zu sein, sitzt offenbar tief. Unabhängig von der Kampftauglichkeit der Bundeswehr etwa auf dem Balkan stellt sich allerdings auch die Frage, ob solche Bundeswehreinsätze in irgendeiner Weise zu mehr Frieden auf der Welt beitragen.

Die Geschichte westlicher Interventionen läßt eher das genaue Gegenteil vermuten. In Vietnam, El Salvador, Nicaragua, Guatemala, Kambodscha, Korea, Panama, Grenada, Libyen usw. ging es ausschließlich darum, reaktionäre und diktatorische Regimes an der Macht zu halten oder wieder an die Macht zu bringen. Auch der Golfkrieg gegen Saddam Husseins Irak war kein Krieg für Freiheit und Demokratie, sondern für das kuwaitische Öl. Es gibt keine Gründe dafür, anzunehmen, daß in Zukunft solche westlichen Interventionen anderen Interessen dienten als in allererster Linie den eigenen, imperialistischen, und daher gibt es keinen Grund, nun plötzlich für weltweite Eingreiftruppen, sprich: in der Regel Angriffskriege, unter Beteiligung der Bundeswehr zu plädieren.

Die Verhinderung von Völkermord und der Schutz der Menschenrechte allein waren noch nie Grund für Interventionen, und deswegen wird auch in Bosnien nicht interveniert. Leider, möchte ich sagen. Denn es gibt Situationen, in denen auch ein engagierter Antimilitarist nicht länger Pazifist bleiben kann. Hitlers Armeen, die US-Army in Vietnam, die Völkermordkampagnen Saddams und der Roten Khmer, Somozas Terrorregime waren mit pazifistischen Mitteln nicht zu besiegen, sondern nur durch bewaffnete Notwehr.

Eine solche Situation, in der Pazifismus nicht weiterhilft, liegt unzweideutig auch in Bosnien-Herzegowina vor. Einzig und allein eine politische Verhandlungslösung könnte die Grundlagen des Krieges beseitigen. Sie aber kann es nur geben, wenn der serbische Aggressor in die Defensive gerät und daher ein Interesse an einer Verhandlungslösung entwickelt. Alle Welt, von den USA bis zum Iran, ist sich einig in der Verurteilung des serbischen Angriffskrieges, begleitet von eindeutigen Kennzeichen von Faschismus und Völkermord wie „ethnische Säuberungen“, KZ-artige Internierungslager, Massenvertreibungen und Massaker. Wer glaubt, diese marodierenden Mörderbanden und ihre Belgrader Sponsoren mit Embargos und gewaltfreien Mitteln allein stoppen zu können oder gar vor internationale Tribunale zerren zu wollen, macht sich selbst etwas vor.

Es gibt sehr viele Einwände — ich habe sie lange geteilt —, mit militärischen Maßnahmen gegen Serbien vorzugehen. Trotzdem sind inzwischen die Einwände gegen das Nichtstun oder die Beschränkung auf faktisch wirkungslose Maßnahmen gewichtiger. Da ist erstens der häufig gehörte Einwand, daß man ja gar nicht wisse, welches Ziel man mit einem militärischen Eingreifen erreichen wolle, und daß man den Krieg damit auch nicht beenden könne. Ich halte das für nicht stichhaltig. Beendet werden kann der Krieg nur, wenn keine einzige Seite ihn fortsetzen will, insofern können militärische Maßnahmen gegen Serbien ihn natürlich auch nicht beenden, genausowenig wie Nichteingreifen. Das ist klar, aber auch kein Einwand. Was aber erreicht werden kann, ist eine spürbare militärische und psychologische Schwächung der serbischen Kriegsmaschinerie. Es kann dabei aber nicht um von Claudia Roth und Helmut Lippelt als „polizeiliche Maßnahmen“ gegen marodierende Mörderbanden und Milizen bezeichnete Einsätze von Bodentruppen gehen. Das wäre tatsächlich ein blutiger, endloser Partisanenkrieg — die Unterscheidung von „polizeilich“ und militärisch ist völlig absurd.

Luftangriffe auf die stark verbunkerte serbische Kommandozentrale nördlich von Sarajevo, auf sämtliche bekannten Munitionslager in serbisch kontrollierten Zonen Bosniens und in Serbien selbst, auf sämtliche serbische Luftwaffenstützpunkte, auf die wichtigen Nachschublinien von Serbien nach Bosnien, auf die militärischen Führungsstäbe und Fernsehstationen in Belgrad, gekoppelt mit Waffenlieferungen an die bosnischen Moslems, beenden den Krieg natürlich nicht. Aber sie schwächen den Aggressor und hindern ihn daran, irreversible Fakten zu schaffen. Das ist ein sehr klares Ziel.

Mitten in Europa entsteht ein neues Palästinenserproblem — serbische Landnahme geht einher mit der Entwurzelung einer ganzen Volksgruppe, die ihr Heimatland verliert. Wenn die Serben die Kontrolle über ihre eroberten Gebiete erst einmal konsolidiert haben, ihre Siedler dort angesiedelt sind und die bosnischen Moslems erst einmal jahre- oder jahrzehntelang als Flüchtlinge über Europa verstreut bleiben, ist es kaum noch möglich, dies wieder rückgängig zu machen. Das zeigen vergleichbare (vom Westen tolerierte) Landnahme-Eroberungskriege Israels in Palästina oder der Türkei in Zypern, und in den serbisch besetzten Gebieten Kroatiens (Vukovar) zeichnet es sich auch bereits ab. Wer glaubt, Flüchtlinge aufzunehmen sei eine humanitäre Tat, ohne die weiterlaufenden Vertreibungen effektiv zu unterbinden, betreibt ein extrem zynisches Spiel im Sinne der serbischen „ethnischen Säuberungen“, das der UNHCR zu Recht nicht mitspielt.

Um die fortgesetzte Schaffung blutiger Fakten durch die Serben zu stoppen, ist es auch nicht sinnvoll, mit Militäraktionen gegen den serbischen Aggressor noch lange zu warten. Je früher militärische Maßnahmen gegen Serbien ergriffen werden, desto besser und wirksamer und desto weniger geht auch das zynische Kalkül der Serben auf, möglichst viele Territorien zu erobern und ethnisch zu säubern, um hinterher aus einer Position der Stärke verhandeln zu können.

Ein zweiter, häufig gehörter Einwand ist die Eskalationsgefahr. Ich glaube, auch der ist nicht mehr stichhaltig: Eskalation heißt z.B., daß das Pulverfaß Kosovo auch losgeht. Wenn aber dieses Pulverfaß nur deswegen nicht hochgeht, weil Serbien beschäftigt ist und weil die Albaner sich bisher nicht bewaffnet zur Wehr setzen, bedeutet das nur, daß es früher oder später losgehen wird, wenn Serbiens aggressiver Nationalismus nicht in seine Schranken verwiesen wird. Die Unterdrückung der Albaner im Kosovo ist mehr als jeder Krieg in Kroatien oder Bosnien nationaler Konsens in Serbien und wird auch von der serbischen Opposition nicht in Frage gestellt. Eine Eskalation ist durch Nichteingreifen auch nicht zu verhindern oder wäre damit auch nicht weniger wahrscheinlich.

Ein dritter Einwand ist, der Aggressor sei nicht genau definiert, Kroaten und Moslems würden auch morden und vertreiben, alle seien Aggressor und Opfer zugleich. Niemand kann bestreiten, daß auch Serben erschossen und vertrieben werden — meist als Folge der serbischen Massaker. Moslems und erst recht die Kroaten sind auch keine Engel. Dennoch: Es handelt sich um einen serbischen Eroberungskrieg. Fakt ist, daß serbische Extremisten systematisch vor Beginn des Krieges Serben in Kroatien und Bosnien-Herzegowina aufgestachelt, friedenswillige Serben mit Ermordung bedroht und ins Exil getrieben und als erste Gewalt angewandt haben, massiv unterstützt von der sogenannten jugoslawischen Volksarmee, deren Unterstützung die serbischen Eroberungskriege erst möglich machte. Die marodierenden Mörderbanden könnten bei weitem nicht diese Verbrechen begehen, würden sie nicht von Milosevics Serbien unterstützt.

Als vierter Einwand wird häufig vorgebracht, statt militärischer Einsätze gegen Serbien müsse das Embargo systematisch durchgesetzt werden. Vollkommen richtig — hier gibt es viel zu tun, und insbesondere gilt es auch Sanktionsbrechern ihrerseits Sanktionen anzudrohen, auch wenn sie EG-Mitglieder sind. Aber dies ist keine Frage des Entweder- Oder, sondern des Sowohl-Als- auch.

Als fünftes Argument schließlich kommt häufig: Wegen des Massenmordes der deutschen Nazis vor 50 Jahren an den Serben hätten sich die Deutschen im Jugoslawienkonflikt besonders zurückzuhalten. Dies vermag mich nicht zu überzeugen, genausowenig wie mich je überzeugt hat, daß sich Deutsche mit Kritik an den israelischen Verbrechen an den Palästinensern und an israelischen Angriffskriegen zurückzuhalten hätten. Warum kam nach 20 Millionen von den Nazis massakrierten Russen und Ukrainern eigentlich niemand auf die Idee, die Deutschen müßten sich mit Kritik an der Sowjetunion besonders zurückhalten?

Es ist nicht ausschlaggebend, ob die BRD sich an einer UNO-Aktion beteiligt oder nicht. Es wäre besser, sie täte es nicht, allein schon um der ununterbrochenen serbischen Lügenpropaganda, die Deutschen wollten im Verein mit Kroaten, Türken, Albanern und nahezu dem gesamten Rest der Welt Völkermord an Serbien begehen, keine zusätzliche Nahrung zu geben. Ich glaube aber, daß der zur Zeit von großen Teilen der deutschen Friedensbewegung vertretene grundsätzliche Pazifismus kein ausreichendes Argument ist, in der Extremsituation des Völkermords den Angegriffenen nicht militärisch zu helfen, und eine solche Position zu Recht früher oder später marginalisiert werden wird — und dann auch keine politische Kraft mehr entwickeln kann, bei imperialistischen Angriffskriegen à la Golfkrieg Widerstand zu leisten. Krieg und Gewalt dürfen keine Mittel der Politik sein, aber wenn Völkermord praktiziert wird, hilft Pazifismus nicht weiter, sondern ist bewaffnete Notwehr erforderlich. Jürgen Maier

im Bundesvorstand Die Grünen 1987 bis 91; siehe auch den Debattenbeitrag des derzeitigen Bundesvorstandsmitglieds Ludger Volmer, der in der taz vom 5. d.M. erschienen ist.