documenta9 — Spot8

■ Rebecca Horn — Ordnung zwingt zum Tintenfluß

Spot ist eine Serie der taz zu einzelnen Arbeiten oder Künstler(innen) auf der documenta9 in Kassel. Bis zum 20.September.

Ein Raum in der ehemaligen Gerhart-Hauptmann- Schule in Kassel. Irgendwo im zweiten Stock. Die Fensterscheiben sind mit weißer Farbe bestrichen, der Ausblick nach draußen bleibt verwehrt. In dem ohnehin nicht großen Klassenzimmer hat Rebecca Horn eine Installation eingerichtet: In Zweierreihen geordnet kleben zehn alte Schulbänke verkehrt herum an der Decke und drohen auf den Betrachter einzustürzen.

Aus den Unterseiten der Pulte, die nun die Oberseite bilden, greifen vielschichtig und wirr Metallröhren in unterschiedliche Richtungen. Vor allem aber schlängeln sie sich fluchtartig aus dem Klassenzimmer hinaus durch kleine Löcher im Fensterglas. Ein ganzes Röhrenbündel fließt nun aus dem oberen Stockwerk wie ein Wasserfall die äußere Fassade entlang in den Schulhof.

Im Innen- und Außenraum rinnt dunkle Flüssigkeit aus ihnen heraus. Sie wird von kleinen Trichtern bereitwillig aufgefangen und in durchsichtige Plastikkanülen umgeleitet, die an solche von Bluttransfusionen im Krankenhaus erinnern. Hier pumpt und stößt das blau-schwarze Naß der Pennäler zähfließend hindurch. Sichtbar mühsam, ja, geradezu qualvoll ist das Prozedere der tröpfelnden Tinte.

Bei all den Plagen, die die nicht sichtbaren Schüler hier haben, steht dem Betrachter selbst der Schweiß auf der Stirn. Schule ist kein Vergnügen, sondern bedeutet viel Arbeit und Leistungsdruck, Ordnung und Fleiß. Im Zeitalter der Computer, Notebooks und Taschenrechner ruft diese Installation von Rebecca Horn Erinnerungen an alte, vergangene Schultage hervor: an die schweren Klassenarbeiten und an die, die einem was beibringen wollten und Nachsitzen verordneten, Rügen und Tadel für Querulanten auferlegten. Protest ist angesagt, und der äußert sich hier im Chaos der sich windenden Schläuche und ihrer Flucht ins Freie. Sie wirken der regelmäßigen Aufhängung der Möbel entgegen. Aus Regelmäßigkeit folgt Chaos, ja, diese auferlegte schulische Disziplin begründet ihn erst, läßt die wilden Zustände und Revolten erst entstehen.

Ordnung zwingt zum Tintenfluß. Gegen die Erwartungen der Lehrer fließt er nur sehr langsam. In der Schule ein Genie zu sein, muß auch schwer fallen. Wer kann sich hier noch frei entfalten? Da sind noch die blitzartigen Pfeile, die mit zirpendem Motorengeräusch eindringlich an die Fensterscheibe stoßen und die weiße Farbe an der Scheibe punktuell wegkratzen. Sind dies die Geistesblitze, die innerhalb des Raumes keinen Platz haben und daher ihren Ausdruck im Freien suchen, weil sie womöglich gar nicht für die Schule bestimmt sind? Der geflügelte Geist braucht seine Freiheit.

Die Rauminstallation von Rebecca Horn zählt auf der documenta zu den wohl eindringlichsten Werken, weil sie physisch und psychisch wie mental erfahrbar ist. Der klaustrophobische Zustand, der beim Betrachter erweckt wird, ruft Träume und Alpträume hervor, läßt nachdenken über das eigene Verhältnis zu Schule und Unterricht, über die dialektische Widersprüchlichkeit von Kreativität und Disziplin. Die Situation ist ausgesucht.

Außerhalb der zentralen Gebäude der documenta fand Horn den Ort, in den sie künstlerisch intervenierte. Den Ort, der widerständig seine altmodischen Qualitäten zugunsten ihrer Intervention ausspielte. Hier vermitteln sich Ruhe und intensive Konzentration auf ästhetische Anschauung und Aussagewerte. Die Intensität der Installation ist die Intensität des ver-rückten Klassenzimmers. Ulrike Lehmann