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INTERVIEW„Das eigentliche Problem liegt bei den Erwachsenen“

■ Christine Günther, Sozialarbeiterin in Halle, zu den jüngsten Ausschreitungen gegen Asylbewerberheime und AusländerInnen

Seit zwei Jahren arbeitet die ehemalige Pastorin Christine Günther beim Jugendamt in Halle. Bekannt geworden ist die streitbare Sozialarbeiterin, die ein Netz von Streetworkern aufbaute, durch ihre Praxis, sowohl mit linken wie auch mit rechten Jugendlichen gleichermaßen zu reden. Das Jugendamt Halle gar unterstützte den Plan rechtsradikaler Kids, ein von ihnen besetztes Haus in eigener Regie weiter zu bewohnen. Die taz befragte Christine Günther zu den jüngsten Pogromen in Halle.

taz: Wer sind die Jugendlichen, die in den letzten Tagen Brandsätze in Asylbewerberheime warfen? Gehören sie der rechtsradikalen Szene an?

Christine Günther: Es hieß immer: Halle ist die Hochburg der Neonazis, und die Presseberichte legen für mich den Schluß nahe, daß man nur darauf gewartet hat, bis es hier auch knallt. Wir sollten jetzt endlich einmal differenzieren. Fakt ist: an den Anschlägen der vergangenen Tage hat sich kein einziger Jugendlicher aus der uns bekannten rechten Szene beteiligt. Dies hat mittlerweile auch der Polizeipräsident bestätigt. Die zweijährige Arbeit hier im Jugendamt hat doch, so glaube ich, Früchte getragen, denn die Rechten haben sich uns gegenüber ganz klar gegen diese Pogrome ausgesprochen. Wir haben hier in Halle einen harten Kern von gewaltbereiten Jugendlichen, den ich ungefähr auf hundert beziffern möchte, sowohl aus der linken wie aus der rechten Ecke. Das Problem ist aber, daß diese Definitionsmarken einfach nicht mehr stimmen. Die Jugendlichen, die jetzt festgenommen wurden, sind zum Teil Gymnasiasten und kommen zum Teil auch aus christlichen Elternhäusern. Sie passen in keine der gängigen Schubladen. Damit ist klar, daß hier kein wirklich politischer Hintergrund gegeben ist, sondern hier wird Frust abgebaut. Gewalt ist für sie die einzige Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen. Es ist ein Ohnmachtsgefühl. Ihnen wird suggeriert: Jetzt herrscht die große Freiheit, und im Grunde stellen sie fest, daß überhaupt nichts mehr stimmt, weder zu Hause, wo die Eltern arbeitslos werden, noch auf der Schule, wo verunsicherte Lehrer eher mauern als gesprächsbereit sind, oder in der Freizeit, wo ihnen die Räume fehlen. Wir haben ganze zehn Jugendfreizeitstätten hier in Halle — aber 27 Spielhallen und 82 Videotheken.

Bagatellisieren Sie damit nicht die Gewaltbereitschaft dieser Jugendlichen, die die Gefährdung von Menschenleben billigend in Kauf nehmen?

Der Vorwurf wird mir immer wieder gemacht. Natürlich billige ich diese brutalen Ausschreitungen nicht, und natürlich müssen sie für ihr Handeln juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Aber wenn ich jetzt die eiligen Anklagen sehe, also „versuchter Mord“, und wie dies von den Politikern dankbar übernommen wird, dann wird hier wieder nach der altbekannten Methode verfahren: Exempel statuieren, um das Problem dann ad acta legen zu können.

Für mich ist diese Flutwelle der Gewalt hauptsächlich ein Problem der Erwachsenen. Jugendliche werden in dieser Gesellschaft, wenn sie ein bißchen lauter werden — und ich meine jetzt damit nicht diese Anschläge —, als Störenfriede deklariert. Erwachsene machen Jugendliche zu Sündenböcken für ihren eigenen Frust und entziehen sich jeder Auseinandersetzung. Die Klaquere am Rande der Straße sind für mich das eigentliche Problem, sie lassen die Jugendlichen für sich agieren.

Müssen nicht auch staatlicherseits mehr Grenzen gesetzt werden?

Ja, sie werden Jugendlichen aber an den falschen Stellen gesetzt. Gegen Politiker können sie nichts unternehmen, dagegen steht die Polizei. Die Ausländer aber sind Freiwild. Sie wissen, daß ihre Eltern und ein Großteil der Umgebung gegen diese Asylpolitik sind und glauben, mit ihrer Gewaltätigkeit auch noch etwas Gutes zu tun — wie übrigens, von der Struktur her ähnlich, die Linken glauben, etwas Gutes zu tun, in dem sie Rechte verprügeln. Gerade hier in Halle habe ich in den letzten zwei Jahren immer wieder beobachtet, daß von Polizeiseite nicht oder nur sehr spät eingegriffen wurde. Gewalt erscheint so immer mehr als legitimes Mittel der Auseinandersetzung.

Können sie denn die gewaltbereiten Jugendlichen durch Diskussionen erreichen?

Am Anfang meiner Arbeit hieß es immer: Mit den rechten Jugendlichen zum Beispiel, mit denen kann man gar nicht reden. Man kann mit ihnen sicherlich nicht reden, wenn man ihnen eine Meinung aufdrückt. Als wir sie kennengelernt haben, haben sie uns erstmal ihren ganzen rechten Quatsch erzählt. So nach und nach haben wir dann festgestellt, daß dies überhaupt keine ideologische Basis hat. Hier in Halle ist kein Jugendlicher aus dem einschlägigen Spektrum in einer rechtsradikalen Partei oder Organisation. Ich will damit nicht sagen, daß das jetzt alles brave Schäfchen sind, aber sie haben zunehmend gelernt, was für sie gut ist und was nicht. Dazu gehört auch die Erfahrung mit dem Haus und die Erfahrung, daß sich eine staatliche Stelle — also das Jugendamt — für ihre Belange einsetzt. Es geht also nicht um Belehrung, sondern darum, daß diese Jugendlichen eine positive Erfahrung machen. Und dies ist eine langfristige Angelegenheit, die gewisse Jugendpolitiker endlich einmal zur Kenntnis nehmen müssen. Insofern ist auch unsere Arbeit hier nicht durch die letzten Ereignisse entwertet, im Gegenteil, ich behaupte,

daß wir Schlim-

meres verhüten konnten. Interview: Nana Brink

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