In der Hitze der Körper

■ 300 Jahre Oper in Leipzig: Eröffnung der Spielzeit mit Bartók und Schönberg

Kisten, Kästen, Schachteln, Kartons; bis an den bettlakenblassen Rundhorizont kunstvoll zu Türmchen gestapelt, von milchgrauem Kalk geätzt: Was mag man in ihnen aufheben? Die angefangenen Manuskripte von Herzog Blaubarts Lebensgeschichte? Karteien früherer Schloßkastellane? Parfümflakons und Seidenfetzen der Erinnerung? Ein hüfthohes Müllgebirge, den silbrig gebeizten Arm- und Baumstümpfen abgestorbener Wälder gleichend, das sind Blaubarts „lichte Wiesen, dunkle Wälder, langgestreckte Silberströme“. Nein, die Öko-Apokalypse ließ Peter Konwitschny nicht nachspielen. Seine von Helmut Brade getürmten Umwelten bedeuten Innenwelten. Aus den ätherischen Düften des Symbolismus haben die beiden zwei Texte in den Dunst von Bettzeug und Bierbüchsen herniedergeholt. Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ nach Béla Balazs (1911) und Arnold Schönbergs „Erwartung“, Text von Marie Pappenheim (1924), gaben einen gedanklich zusammengehörigen Abend auf einer räumlich einheitlichen Bühne. Auch in der musikalischen Abteilung der Kunst- und Geistesgeschichte stecken die Werke in nahen Karteikästen, Stichwort: Beginn der Moderne.

Judith, die schöne Frau, zog es zu einem griffig-mittelgroßen Schreibmaschinenschreiber mit schütterem Haarwuchs. Sie macht sich, wie einst Elsa von Brabant, sogleich daran, in seine Einsamkeiten vorzudringen. Sieben Türen verschließen Blaubarts gotische Seelenburg; möbliert ist sie mit einem gammeligen Kühlschrank, Schreibtisch und straff gefedertem Bettgestell. Annäherung und Abwehr für lyrischen Sopran und Bariton begleiten den Kampf um die Türen eins bis vier. Kristine Ciesinski rang mit vokaler Vehemenz in allen denkbaren Intensitätsgraden, schüttete die Fülle des Wohllauts in den immer wieder anders erleuchteten Zuschauerraum und in die Finsternis ihrer Beziehungskiste. Falk Struckmann hielt ehern dagegen. Die Wucht seiner vollen Töne lockte aus dem wachen Musiktheaterrezipienten immer mal wieder den schlürfenden Belcantogenießer hervor. Kaum je gesanglich ins Piano fallend, flüchtete er für die Abgründe stillerer Zynismen eher ins Spiel. Udo Zimmermann am Dirigentenpult kam mit Bartóks farbenglühender Partitur vorzüglich, weit besser als mit Schönbergs scharfkantigen Brocken, zurecht. Er kostete die delikaten Mischungen genüßlich aus, ließ die machtvollen Choräle dröhnen; spann, sorgfältig die Gesamtentwicklung kalkulierend, immer enger das Netz um das alltägliche Drama zwischen Mann und Frau. Bei Tür fünf ist einer jener Theatermomente zu erleben, wo man der Maschine aus Seilzügen, Schminke und Pappmaché schutzlos ausgesetzt ist. Das lastend ziegelbraune Burgverließ fliegt in die Höhe des Schnürbodens, eine kalkgraue Unendlichkeit öffnet den Blick über alle Horizonte. Inmitten des Chaos blasen die Posaunenengel des Jüngsten Gerichts in C- Dur, und es braust die Orgel aus dem Orchester. Judith sucht die Beretta aus der Handtasche — und schießt nicht. Mit einer Handbewegung wischt der Mann die Mündung beiseite.

Ist das erlaubt, fragt man sich, wenn man wieder Luft hat. Ist der Grenzübertritt aus den kühlen Landen der Böcklin, Klimt und Maeterlinck in die Körperhitze von Mann und Frau intim kein Sakrileg? Es ist ein überlegtes. Konwitschnys Transformation der berückend schönen Worte aus dem zeitlos-geheimnisvollen Schloß mit Traumlandschaft auf den Nerven-Kriegsschauplatz einer exzessiven Liebschaft vom vergangenen Jahr geht auf, weil er der Musik zuhört — die schon da ist, wo er die Bilder hinbringt — und die sanften Wortströme wörtlich nimmt. Von Tränen und blutigen Schatten und seelischen Eingrenzungen als dem Ergebnis männlicher Tätigkeit ist da die Rede und vom Versuch, alles hinter geschlossene Türen zu verdrängen.

Balazs und Pappenheim schrieben noch die Menetekel, die Komponisten wurden schon deutlicher; heute ist gar nichts mehr zu verdrängen. Wie um die Spannung der Personenbeziehungen ins Erträgliche zu mildern, auch um der ästhetischen Balance willen, griff Konwitschny kräftig in die Räder der Theatermaschine. Diesmal spielte er sein Spiel mit dem Licht. Es gleißte die Disco- Kugel im Zuschauerraum in tausend Sternen, das Saallicht leitete das Publikum mit hinter Blaubarts Türen.

Judith findet hinter der letzten die drei toten Frauen des Herzogs; Prinzessinen in verstaubten Gewändern alter Zeiten. Sie geleiten Judith, einen Müllsack in der Hand und ein Tuch um die Frisur, in die Freiheit. Der manische Schreiber flüchtet ins Heil seiner Manuskripte.

So klug es ist, Schönberg und Bartók dramaturgisch in Beziehung zu setzen, so historisch logisch die Musiken aufeinanderfolgen, die Fieberkurve theatralischer und musikalischer Wirksamkeit fällt vom Dialogstück zum Monodram „Erwartung“ ab.

Indes, Kristine Ciesinski stellt sich der Aufgabe: Judith ist nun am selben Ort Schönbergs „Frau“. Musikalisch wie psychisch ist sie in einer anderen Zeit angekommen, nach der Periode des Gefühls muß die Zeit der Konstruktionen um die seelische Lösung der Beziehung beginnen. Unaufhaltsam gelangt sie an den tiefsten Punkt der Verzweiflung. Endlich wieder der Griff in die Handtasche — aber der gilt dem Zigarettenetui. Die Frau ist am Ende des Tunnels. Sie verläßt den Saal.

Der übrigens war voll besetzt. Und dies verdankt sich einem schlechthin genialen Schachzug des Intendanten Udo Zimmermann. Er machte diese erste Premiere seiner Jubiläumsspielzeit 300 Jahre Oper in Leipzig seinem Publikum zum Geschenk. Binnen Stunden waren 1.400 Karten ausgegeben. Was beweist, die vielberedete Kulturmüdigkeit im Osten ist ein Gerücht. Selbst ein Abend mit Schönberg und Bartók schreckte niemanden. Das tun sonst die Preise. Irene Tüngler