GASTKOMMENTAR
: Verteidigung der Republik

■ Ein Plädoyer für Prinzipientreue und Pragmatismus

An manchen Fernsehabenden reibt man sich, aller medialen Abgebrühtheit zum Trotz, die Augen, ist sprach- und ratlos. Gestern also das brennende Asylheim in Quedlinburg. Zum dritten Mal nacheinander. Hatten wir nicht gerade eben noch über Metropolenkultur, die multikulturelle Gesellschaft, über den Begriff der Differenz und des Anderen, über die demokratische Macht des zivilen Diskurses geredet, in dem die Talkshow zur zweiten Kammer des Parlamentarismus avancierte? Wurden nicht eben noch unter pfeifeschmauchendem Beifall sozialdemokratischer Weißweintrinker sanfte „Denkfabriken“ auf der grünen Wiese eröffnet — „Weiches Wasser bricht den Stein“? Waren die Feuilletons nicht bis vorgestern noch voller Debatten über die Ästhetik der Postmoderne?

All das scheint plötzlich einer anderen Epoche anzugehören. Seit Hoyerswerda und Rostock steht das Mittelalter vor der Tür, während drinnen noch die Scampi mit Zitronensaft beträufelt werden. Wieder einmal fühlt sich die zweit- oder drittreichste Nation der Welt im Würgegriff anstürmender und listenreich einsickernder fremder Mächte. Die Formierung der sozialpsychologischen Wagenburg wird trotz aller Betroffenheitsphrasen politisch vorbereitet und publizistisch vermittelt.

Dabei ist der in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik einmalige Massenterror von rechts gleichzeitig, und das ist langfristig die größte Gefahr, Folge und Treibsatz simplifizierender Interpretationen der sozialen Wirklichkeit. Eine realistische, der Komplexität der Situation gerechtwerdende Diskussion wird immer wieder von den traditionellen Reaktionsmustern zunichte gemacht. Hier die Änderung des Grundgesetzartikels16 als Fetisch der Befreiung von der „Asylantenschwemme“, dort Bimbophilie und dümmliche Inländerfeindlichkeit, „Alle Grenzen offen“ und „Nazis raus!“ — dazwischen steht die eher hilflose moralische Empörung einer liberalen Öffentlichkeit, die, auf dem falschen Fuß erwischt, unvorbereitet vor dem plötzlichen Einbruch des archaischen Rassismus in die vermeintlich aufgeklärte Zivilgesellschaft der achtziger Jahre steht.

Die dramatische Unfähigkeit der Gesellschaft, eine ebenso prinzipientreue wie pragmatische Haltung einzunehmen, hat dazu geführt, daß sich auch nach jahrelanger „Asyldebatte“ und inmitten des pogromartigen Trommelfeuers in der Ex-DDR nicht einmal ein Minimalkonsens der Vernunft durchsetzen konnte, für den etwa Dany Cohn-Bendit und Heiner Geißler stehen.

Warum also ist nicht endlich klarzumachen, daß erstens Polizei und Staatsanwaltschaft ihre verdammte Pflicht zu tun haben, genauso wie zweitens die politische Klasse? Sie hätte längst schon die Dinge beim Namen nennen müssen: Terror, und komme er von Fünfzehnjährigen, wird nicht geduldet. Deutschland ist Einwanderungsland, Flüchtlinge werden kommen und sind willkommen; deren Zahl jedoch muß begrenzt werden, wozu eine Dreiteilung in Asylsuchende, Kriegsflüchtlinge und Einwanderer — auch auf europäischer Ebene— gesetzlich zu regeln ist. Dazu gehören sowohl ein Einwanderungsamt als auch eine Infrastruktur, die der voraussichtlich dauerhaften weltweiten Migrationsbewegung gewachsen ist.

Sicher, auf diese Weise sind weder illegale Grenzübertritte noch soziale Konflikte zu verhindern. Aber ebenso sicher ist, daß man nicht mehr über im Freien kampierende, in Büsche pinkelnde und klauende Asylbewerber reden muß, um versuchten Totschlag zu erklären. Denn das Nähere werden dann Gesetze regeln, die für alle gelten.

Es gibt in Deutschland ein merkwürdiges Zusammenspiel zwischen einer Linken, die nicht über das Offensichtliche reden will — daß es tatsächlich Grenzen der Zumutbarkeit gibt —, und einer Rechten, für die Zivilcourage ein Fremdwort ist. Weder mit einer großen „Selbstverständigungsdebatte“ (Semler) noch mit der „letzten Demo“ der Linken und Intellektuellen (Brumlik) kann man das rechte Gewaltklima bekämpfen. Die entscheidenden Schlachten werden nicht sonntags, sondern im schwierigen Alltag geschlagen, wo Zivilcourage und Realitätssinn ihr eigenes Vernunftprinzip zur Verteidigung der Republik beweisen müssen. Reinhard Mohr