Jack Lemmons Kinnpartie

■ Filmfestspiele in Venedig: Mienenspiel statt Materialschlacht

Venedig (taz) — Al Pacinos Wangenknochen. Jack Lemmons Kinnpartie. Der sterbende Alte, wie er von der Bettdecke Flusen wegzupft. Seine Frau im Altersheim, die versucht, das Garn in die Nadel einzufädeln. Die Leinwand macht jeden zum Star und jeden Handgriff zum Ereignis. Viele Filme auf der diesjährigen Biennale haben diesen Tatbestand vergessen. Sie machen viel zu viele Worte. Dabei ist das Kino der einzige Ort der Welt, in dem das menschliche Gesicht, Körper und Gestalt uns übergroß nahekommen, so daß wir uns in einen Gang, einen Augenaufschlag oder ein Ohrläppchen vergucken können, ohne uns um das Objekt unserer Begierde auch nur im geringsten bemühen zu müssen. Zwei sehr unterschiedliche Beiträge verwandelten die Biennale gestern in ein Fest der Gesichter. Zwei Kammerspiele, ein belgisches in der Settimana della Critica und ein amerikanisches im Wettbewerb.

Frans Buyens hat mit drei Schauspielern den Tod seines Bruders, des Vaters und der Mutter nachgestellt — Minder dood dan de Anderen. Eine strenge Inszenierung, karge Räume, Bett, Tisch, Stuhl. Vater und Mutter sprechen mit dem Mann hinter der Kamera als ihrem Sohn, zeigen Fotos des toten Bruders, weinen, erinnern sich. Die Mutter bittet um Sterbehilfe und einen würdevollen Tod, er wird ihr gewährt. Leider verzichtet Buyens nicht ganz auf die Sinnfrage und behauptet, seine friedlich gestorbene Mutter sei weniger tot als der an den Folgen schwerer Verbrennungen elend gestorbene Bruder. Aufregend an seinem unspektakulären Film sind die Kleinigkeiten, die Belanglosigkeit dessen, was einer tut, bevor er stirbt. Der Vater mümmelt Apfelsinenstückchen und will keine Kirchenlieder auf der Beerdigung. Die Mutter ißt Torte und spricht von ihrem Tumor. Die Hand auf der Bettdecke, verlangsamte Gesten, ein Seufzen.

James Foley hat Mamets Theaterstück Glengarry Glen Ross verfilmt. Ein Immobilienbüro, Schreibtische, Telefone und Aktenschränke. Künstliches Licht, eine häßliche Neonwelt. Es ist die Zeit der Rezession, das Geschäft geht schlecht. Wer seinen Job behalten will, muß eiskalt kalkulieren, Kunden über den Tisch ziehen, die Kollegen austricksen. Eine mörderische Welt, in der Konkurrenz zum Lebensprinzip erhoben ist: Entweder du vernichtest den anderen oder du bist selbst am Ende. Teuer an Foleys Film waren nur die Stars: Jack Lemmon, Al Pacino, Alec Baldwin, Ed Harris. Ihre Wortgefechte, die Winkelzüge, Überredungs- und Wutausbrüche, Four-Letter-Words und Kundenwerbung nehmen einem dem Atem. Jack Lemmon zieht alle Register, schmeichelt in einem Moment, tobt im nächsten und redet sich buchstäblich um Kopf und Kragen. Jeder Fehler wäre sein Ende. So bleibt ihm nur die Selbstzerstörung: eine Tragödie, die keine Materialschlacht erfordert, sondern lediglich Lemmons Mienenspiel. Draußen regnet es in Strömen, man kann kaum vor die Tür treten. Gelegentlich rattert die Hochbahn vorbei, man möchte aussteigen, auf daß ein Ende sei in diesem Krieg der Worte. Aber es gibt kein Entrinnen. Kein Film für Klaustrophobe. Christiane Peitz