Ärzte schalten von Protest auf Dialog

Beim Ärztetag in Köln war die Gesundheitsreform zwar noch Anlaß heftiger Kritik/ die Stimmungsmache gegen Seehofer weicht aber der Dialogbereitschaft/ Kompromisse sind in Sicht  ■ Aus Köln Annette Jensen

Harmonie demonstrieren — das war das geheime Motto des gestrigen Ärztetages in Köln. Man dankte sich, man beglückwünschte sich, gelegentlich gab es anfeuernden Applaus oder Pfiffe für den Gesundheitsminister. „Eines muß man Horst Seehofer ja lassen: Er hat es geschafft, die deutsche Ärzteschaft in einem Maße zu einen, wie es seit der Ära Blank keinem Gesundheits- und Sozialpolitiker der Bundesrepublik gelungen ist“, leitete Frank Ulrich Montgomery als Vertreter der im Marburger Bund organisierten Krankenhausärzte seine Rede ein — obwohl die Kassenärzte noch am Vortag eine Hauptursache der Kostenexplosion im Krankenhaus lokalisiert hatten. Der „Seehofersche Giftcocktail“ ziele darauf ab, das Zusammengehörigkeitsgefühl des Berufsstandes zu zerstören, die Niedergelassenen zu Quasi-Beamten zu machen und die Krankenhäuser in den Bankrott zu treiben, so der Ständevertreter. Zu Opfern sollen die Ärzte werden — während die Krankenkassenbürokratie immer mehr Macht gewinne. Als eigentliches Ziel der Seehofer-Pläne hat Montgomery das Super-Wahljahr 1994 ausgemacht: Dann wolle die Bundesregierung noch einmal schnell die Renten erhöhen und dafür solle jetzt die Freiheit der Ärzte geopfert werden. Brausender Applaus.

Auch Bundesärztekammerpräsident Karsten Vilmar durfte sich in der Zustimmung der rund 600 herbeigeeilten Ärzte sonnen, als er gegen das „Dogma“ der Beitragssatzstabilität wetterte und, scheinbar ganz Patientenfreund, mehr „Wahlfreiheit für die Versicherten“ forderte. Der „faszinierende“ Fortschritt habe die Medizin für die Patienten sicherer gemacht, vorzeitiger Tod sei so vielfach vermeidbar. Die Selbstbeteiligung der Kranken fand seine ungeteilte Zustimmung: Sie werde die Motivation des Bürgers zu einem „vernünftigen Umgang mit Arznei- und Heilmitteln“ fördern.

Trotz nach wie vor starker Worte flaut der Protest der Ärzte gegen Seehofer merklich ab. Dialogbereitschaft und Mitgestalten sind jetzt die Stichworte, nicht mehr Streik und Agitation im Wartezimmer. Die Forderung eines Delegierten, Seehofer müsse zurücktreten, weil seine Pläne verfassungswidrig seien, war denn auch schon eher ein exotischer Vorschlag. „Wir wollen sachlich bleiben“, war das Motto des Tages. Immerhin habe Gesundheitsminister Seehofer am Vorabend die Alternativvorschläge der Kassenärzte als tragfähige Grundlage für gemeinsame Gespräche bezeichnet, vermeldete der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Ulrich Oesingmann, befriedigt. Zwei Arbeitsgruppen sollen nächste Woche ihre Tätigkeit aufnehmen, die sich mit ambulantem Operieren und Arzneimittelfinanzierung beschäftigen sollen. Auch der zunächst mit Pfiffen begrüßte Vorsitzende vom Hartmannbund, Hans-Jürgen Thomas, wurde schließlich mit Beifall belohnt. Er hatte alle noch am Vortag beim Kassenärztetag aufgebrochenen Konfliktpunkte einfach unter den Tisch fallen lassen und erging sich in konservativen Allgemeinplätzen. Weder wiederholte Thomas die Forderung, Gespräche über die Gesundheitsreform zu boykottieren, noch rechtfertigte er die von der Pharmaindustrie finanzierte Protestaktion des Hartmannbundes.

Vor dem Beitrag des Berliner Ärztekammerpräsidenten Ellis Huber kam Spannung auf im Saal; Trillerpfeifen waren verteilt worden. Huber hatte in den letzten Wochen seinem Berufsstand nicht nur Raffgier vorgeworfen, sondern auch die enge Kollaboration der Weißkittel mit der Pharmaindustrie angeprangert. Gestern aber gab er sich fast kleinlaut, formulierte vor allem das Verbindende der Versammelten: „Wir müssen die Selbstverwaltung zurückgewinnen. Alle hier im Saal wollen Reformen.“ Beinahe glücklich eilte daraufhin der Vizepräsident des Ärztetages Hoppe zum Mikrofon: Heute habe Huber sein „Saulus-Paulus-Erlebnis“ gehabt.

Ganz im Harmoniesog stimmte die Versammlung dann auch dafür, den Entschließungsantrag des bei den demokratischen Ärzten engagierten Hermann Schulte-Sasse an den Vorstand der Bundesärztekammer zu verweisen. Die dort geäußerten Gedanken könnten dann in die Verhandlungen mit einfließen, so der Sitzungsleiter. Tatsächlich aber ist wohl kaum damit zu rechnen, daß die Standesvertreter die Einführung der Zweiklassenmedizin durch „Regel- und Wahlleistungen“ ablehnen und die Verantwortung für die Verschreibungspraxis selbst übernehmen, so wie es in dem Antrag heißt. Und auch die Einschätzung, daß viel zuviel sinnlose Diagnostik betrieben wird, weil das den Ärzten gute Gewinne bringt, war gestern in Köln eine völlige Außenseiterposition. Die ärztlichen Standesvertretungen sehen keinen Grund zur Selbstkritik: Sie fühlen die Ethik ganz auf ihrer Seite.