Majestätsbeleidigung?

■ Türkischer Ministerpräsident: Keine Homos in türkischer Regierung/ Verfahren gegen den schwulen Kurden Selman Arikboga wird eingeleitet/ Freiheitsstrafe bis zu sechs Jahren droht

Berlin. Selbst für den türkischen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel ist der inzwischen untergetauchte offen homosexuelle Kurde Selman Arikboga — Aktivist der »Aktion Standesamt« vom 19. August — ein Gesprächsthema. Der Grund: In einem landesweit verbreiteten Interview mit der Tageszeitung Hürriyet hatte Arikboga die Vermutung geäußert, daß Homosexuelle auch in Parlament und Regierung der Türkei zu finden seien. Dies bezeichnete Demirel als noch nie dagewesene Beleidigung des türkischen Staates, ohne aber Arikboga ausdrücklich anzusprechen. Die Regierung werde jetzt ein Verfahren nach §159 des türkischen Strafgesetzbuches einleiten, sagte Demirel der in Istanbul erscheinenden Tageszeitung Milliyet.

Arikboga, der Vorsitzender der Ausländergruppe »Schwule Internationale« ist, droht danach eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Jahren. Der §159 wird als Einschüchterungsmittel gegen Oppositionelle eingesetzt. Die unklare Formulierung einer »Herabwürdigung von Militär, Regierung, Parlament und Jurisdiktion der Türkei« läßt genügend Raum für willkürliche Verhaftungen. »Man wird sich in der Türkei mit diesem Strafverfahren lächerlich machen«, glaubt Ismail Kosan, ausländerpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Grüne. Eigentlich sei Homosexualität etwas ganz Alltägliches in der Türkei, aber es werde nicht offen darüber gesprochen. »Ich glaube, daß es überall Homosexuelle gibt, warum also nicht auch in der türkischen Regierung oder im türkischen Parlament«, sagte Kosan der taz.

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Uta Zapf sieht im Fall Arikboga ein Indiz für die prekäre Menschenrechtssituation in der Türkei. »Das hört sich doch sehr nach Majestätsbeleidigung an«, so die stellvertretende Vorsitzende des Arbeitskreises Kurdenpolitik. Eine kleine Anfrage plant die offen lesbische Bundestagsabgeordnete Christina Schenk vom Unabhängigen Frauen- Verband (UFV). »Verstößt die Strafverfolgung Arikbogas gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit, und bedeutet dies eine politische Verfolgung im Sinne von Artikel 16 des Grundgesetzes?« will die Abgeordnete wissen.

In Bonner Regierungskreisen war es gestern nicht möglich, eine konkrete Stellungnahme zu erhalten. Die Menschenrechte und das Problem der Minderheiten in der Türkei seien aber ein Anliegen der Bundesregierung, erklärte ein Sprecher des Bonner Außenministeriums.

Die wiederholten Morddrohungen gegen Arikboga (die taz berichtete) beschäftigen inzwischen auch die Staatsschutzabteilung der Polizei. Nähere Auskünfte waren dort aber nicht zu erhalten. Arikboga hatte vor einigen Tagen Berlin verlassen. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt. Marc Kersten