Mode vom Prenzlauer Berg

■ Die "Balance"-Boutique in der Bötzowstraße hat ein ungewöhnliches Angebot. Hier können sich Behinderte und Nicht-Behinderte modisch einkleiden. Günter Ermlich besuchte das in Berlin einzigartige Spezialgeschäft

Die „Balance“-Boutique in der Bötzowstraße hat ein ungewöhnliches Angebot. Hier können sich Behinderte und Nicht-Behinderte modisch einkleiden. GÜNTER ERMLICH besuchte das in Berlin einzigartige Spezialgeschäft.

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ine therapeutische Kinderpuppe im weißen Kleid, mit roten Bäckchen und strubbeligen Haaren, sitzt im Rollstuhl. Gut sichtbar im Schaufenster des Eckladens. „Balance. Mode für alle“ steht über dem Eingang. Drinnen spielt leise klassische Musik.

„Balance“ ist die erste Boutique in Berlin, die ein eigenes Sortiment behindertengerechter Kleidung führt. „Wir wollen die bewußte Verbindung von Mode für Behinderte und Nicht-Behinderte“, sagt Angela Hähnel, eine der drei Frauen, die das Spezialgeschäft für Mode und Design im Prenzlauer Berg betreiben. Sie verstehen „Mode als Lebensgefühl“. „Nicht abschotten, sondern öffnen“ ist ihr Motto.

Die drei Inhaberinnen wollen, daß „Behinderte einfach die Normalität des Einkaufs“ erfahren. Daß sie vom stillen Örtchen aus beim Versandhandel ihre Kleidung bestellen, findet Angela Hähnel wenig praktikabel. Damit die behinderten Kunden ganz selbstverständlich einkaufen können, ist der „Balance“-Laden mit besonderem Service versehen: reservierte Parkplätze, automatische Eingangstür, geräumige Verkaufsfläche mit rutschfesten Fußböden, große Umkleidekabine mit Liege, behindertengerechte Toilette, Sitzecke für Beratungsgespräche.

Die Kleiderständer sind bequem zu erreichen, das Angebot ist gut zu überschauen: Kleider, Hosen, Röcke, Pullover, Mäntel, Tages- und Freizeitbekleidung, Regen- und Wetterbekleidung, Unter- und Nachtwäsche, für Frauen, Männer, Kinder, und eben das Zusatzsortiment „behindertengerechte Bekleidung“: Rollstuhlfahrerhosen, Hosen für Prothesenträger, weite Regenumhänge. Damit man auch mit einer Hand die Verschlüsse leicht zubekommt, sind die Schlitzleisten mit Reißer oder Klette versehen. Die Hosen sind der Sitzhaltung angepaßt und haben einen elastischen Bund.

Wenn den Kunden etwas zwickt und zwackt, kommt die eigene Änderungswerkstatt zum Zuge: andere Verschlußelemente, andere Proportionen, Verlängern und Kürzen. In einer Kundenkartei sind Extrawünsche erfaßt, so daß Stammkunden später auch von zu Hause bestellen können. Neben dem Einkauf konfektionierter Größen fertigt eine PGH (Produktionsgenossenschaft des Handwerks) in Bernau „feste Kleinserien nach unseren Schnitten und Angaben“, erzählt Hähnel.

Der Sprung in die Marktwirtschaft

Die drei Frauen vom Prenzlauer Berg haben mit ihrer Boutique eine Marktlücke gefüllt. Denn immmerhin gibt es, laut Senatsstatistik, allein 150.000 Behinderte in Berlin, die nicht unbedingt die Enge zwischen den proppevollen Kleiderständern im Kaufhaus schätzen. Und im sonstigen Bundesgebiet bieten nur noch zwei Konkurrenten behindertengerechte Mode an: der Lobbacher Versandhandel „Rolli Moden“ und „In Petto“ in Solingen.

Die „Balance“-Modefrauen haben nicht nur Erfahrung mit Mode- und Textilbranche, sondern auch im Umgang mit Behinderten. Nach dem Studium des Modedesign und Industriedesign an der Berliner Kunsthochschule in Weißensee arbeiteten sie im ehemaligen Modeinstitut der DDR in einer Gestaltergruppe für Kinderoberbekleidung. Ihr Auftraggeber war das damalige Ministerium für Leichtindustrie, das ein Bekleidungsprogramm für körperbehinderte Kinder wollte. Die entworfenen Bekleidungsteile wurden dann zwar ausgiebig in der Körperbehindertenschule Berlin getestet, kamen aber danach kaum in die Geschäfte.

Als Arbeitsgruppe „Bekleidung“ traten die Designerinnen 1990 dem Berliner Behindertenverband bei; mit Herstellern, Verkaufsstellen und künftigen Verbrauchern gründeten sie eine Interessengemeinschaft „Bekleidung“. Nach der Wende wurden die drei Modefrauen arbeits-, aber nicht mutlos. Unter allen Umständen wollten sie ihr ausbalanciertes Projekt „Mode für alle“ in die Tat umsetzen. Sie besorgten sich eine Gewerbeerlaubnis und besuchten Lehrgänge für Betriebswirtschaft. Eine Fragebogenaktion bei Behinderten über Bekleidungs- und Verkehrsgewohnheiten und ein Bank- Gutachten über ihr Projekt versprach ihnen gute Chancen. Mit Krediten und einem EG-Zuschuß klappte der Sprung in die Marktwirtschaft mit der Eröffnung der Boutique im April 1991.

Modisch und behindertengerecht

„Balance“: Der Name ist Programm, für „Gleichgewicht und Harmonie bei den Kunden und in unserer Frauengruppe“, heißt es in der Projekt-Selbstdarstellung. Zweifelsohne ist die Boutique — in nächster Nähe zum Begegnungszentrum der Behindertenvereinigung Prenzlauer Berg gelegen — ein Vorzeigeprojekt, das in seiner Einzigartigkeit ausstrahlt. Immer wieder werden die Modedesignerinnen ins Berliner Umland eingeladen, um Modenschauen und Modellvorführungen mit behindertengerechten Kollektionen zu organisieren.

Dabei wird offensichtlich, daß die Designerinnen modische und behindertengerechte Bekleidung für Leute mit Handicaps anbieten. Außerdem müsse die Garderobe vor allem pflegeleicht, kombinierbar und veränderbar sein, betonen die drei. Daß auch bei der Mode Behinderte wieder ausgegrenzt würden, indem man sie kleidungsmäßig uniformiere, sei ein großes Problem. Deshalb müsse gewährleistet werden, daß Behinderte den allgemeinen Modetrend mitmachen könnten.

Allerdings noch nicht ausbalanciert ist das Kaufverhalten Ost und West für Kindermode. „Früher, in der DDR, war die Einstellung zum behinderten Kind eine andere“, erzählt Hähnel. „Damals konnte man bei den Sonderverkäufen im Centrum- Warenhaus gleich drei, vier Hosen auf einmal kaufen, wegen der gestützten Preise.“ Heute ist die Nachfrage nach Kindermode insgesamt und besonders die für behinderte Kinder zurückgegangen. Das hat „Balance“ selbst erfahren. „Dem Kinde zieht man jetzt die Turnhose an und sagt ,Sei stille!‘, denn die Eltern kleideten sich erst mal selbst neu ein — fürs Bewerbungsgespräch.“