Die Kunst der Verformung

■ Die Mode vergangener Jahrzehnte hat die natürlichen Formen unseres Körpers verborgen, überbetont oder sogar entstellt. Doritt Cadura-Saf blätterte in Modeheften und sah sich in Modehäusern um. Ihr Fazit: Allet...

Die Mode vergangener Jahrzehnte hat die natürlichen Formen unseres Körpers verborgen, überbetont oder sogar entstellt. DORITT CADURA-SAF blätterte in Modeheften und sah sich in Modehäusern um. Ihr Fazit: Allet schon ma dajewesn.

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enn ich mir die Mode vergangener Jahrzehnte so angucke, diesen Wechsel des Abgelegten, Abgehakten und scheinbar Neuen, eröffnet sich keine besonders überraschende Perspektive: Allet schon ma dajewesn.

Betrachtet man dagegen die Mode vergangener Jahrtausende, sollte sich uns offenbaren, daß es sich um Kunst handelt. Jedenfalls sehen sich die Modemacher selbst als Künstler und erwarten, daß der bescheidene Rest der Welt dies ebenfalls tut. Es handelt sich um die Kunst der Verformung, ähnlich der des Beschneidens von Hecken und Bäumen, etwa so wie in den Gärten von Versailles. Kaum eine Moderichtung hat je versucht, die natürlichen Formen des menschlichen Körpers beizubehalten oder nachzubilden. Entweder wurde er verborgen, verbogen oder bis zur Karikatur überbetont. Man denke an eine so arme Rokoko-Schweinin in jenen Gärten, etwa zwei Meter breite Hüften, die Perücke 75 Zentimeter hoch und darunter das gräßlich juckende Ekzem, verursacht durch Läuse und anderes Ungeziefer. Der heutige Umriß des menschlichen Körpers erhält seine Wucht durch ausladende Schaumstoffschultern. Mollige Hüften werden ihm durch sanftes oder heftiges Ankrausen der Röcke oder Hosen am Taillenbund verliehen. Fällt nun die Footballerjacke oder Bluse locker über die luftig-bauschigen Hosen oder Röcke, ist eine vollendete Würfelkugelform erreicht, unter der zwei hurtige Füßchen — oft in spitzen Schühchen — hervorschauen.

Nicht, daß ich von derlei Verformungsdrang und Unterwerfung unter das Modediktat immer frei gewesen wäre: Wenn nicht drei rüschenbewehrte Pettycoats beim Rock 'n' Roll um die Waden schwangen, dann zwängte ich mich ins kleine Schwarze, dessen Bequemlichkeit etwa der einer unelastischen Wurstpelle entsprach. Erstaunlich, daß ich nach all dem, was ich meinen Füßen mit den Bleistiftabsätzen antat, überhaupt noch laufen kann. Die Ballen brannten damals wie Feuer, und die Lendenwirbelsäule verschob sich zunächst ganz unmerklich. Mein diesbezüglicher Lernprozeß setzte leider etwas zu spät ein.

Die Accessoires der Gegenwart: Die Handtäschchen des Modejahrgangs 1989/90 hingen an langen Lederstrippen von der Schulter bis auf etwa halbe Oberschenkelhöhe herunter, hatten die Größe eines mittleren Damenportemonnaies und konnten nichts weiter aufnehmen als einen Lippenstift und einen kleinen Taschenkamm. Die moderne, rauchende Autofahrerin sah sich vor das Problem gestellt: Wohin mit den Wohnungsschlüsseln, Autoschlüsseln, dem Nastüchlein, Zigaretten, Feuerzeug, Personal- und Autopapieren? Und nicht zuletzt: Wohin mit dem tatsächlichen Portemonnaie?

Puddingartige Vibrationen des natürlichen Fleisches

Die neue Damenminimalwäsche: Bei ihr hat sich das Verhältnis vom Slip zum Büstenhalter derart verschoben, daß es die Frauenbewegung um Jahrzehnte zurückwirft. Was inzwischen an dem Tanga mit der überaus hygienischen Schnur durch die Poritze beziehungsweise dem ganzen Alibifetzchen fehlt, hat sich am einstigen Büstenhalter so angesiedelt, daß er eher einem Leibchen gleicht. Noch ehe ich den Vorschlag von langen Ärmeln und Rollkragen am erweiterten Büstenhalter fertigdenken konnte, erschienen die ersten entsprechenden Modelle bereits im Schicki-Micki-Laden um die Ecke. Sicher war diese wärmende Vervollkommnung für den Oberkörper als Ausgleich für die durch den Tanga etwas frisch gehaltenen Nieren gedacht.

Wenn ich im Sommer schwimmen gehe, erinnern mich die vermutlich erotisch gemeinten und freischwingenden Hinterbacken zu seiten der besagten Strippe an die Statik antiker Skulpturen und an das, was beide voneinander unterscheidet. Ich persönlich ziehe das Statische den puddingartigen Vibrationen des natürlichen, in Bewegung befindlichen Fleisches vor. Für mich ist die Frage noch unentschieden, ob diese Unten-fast-ohne-Mode von einem Mann oder einer Frau geschaffen wurde. Ich tippe auf Männer und vermute, daß es sich hier einmal mehr um den typischen Fall handelt, wo der Schein das Bewußtsein bestimmt — wenn nicht trübt. Man kennt das ja. Wahrscheinlich sollen Alibifetzchen wie der Tanga den Männern zurücksuggerieren, daß die Frau, die so etwas trägt, wieder ein verfügbares Objekt ist.

Nach vielen Jahren schlage ich zum ersten Mal wieder eine Modezeitschrift auf. Was lacht mir da vertraut entgegen? Der blanke Flüchtlingslook. Die Models sehen aus wie ausgebombt, die Kleider sind drei Nummern zu groß und schlottern um die schön-kasteiten Leiber, deren Formen als Prototyp in der Natur nicht vorkommen und dennoch darüber entscheiden, wie frau auszusehen hat. Arme-Leute- Look: geflickt und zerknautscht, aber reinlich.

Und hier der Text zur Abbildung eines anderen Fummels auf teurem Hochglanzpapier: „Steppjacke und Paillettenrock sind im Prinzip ganz sportliche Modelle.“ Ich bin bestürzt. Wieder einmal scheint mir zum Verständnis des Evolutionsprozesses dieser Welt etwas Wesentliches entgangen zu sein. Ich komme einfach nicht darauf, von welchem Prinzip der oder die Texter/in gesprochen hat. Sport, Pailletten und Prinzip — wer kann dieses Rätsel lösen? Es fällt mir ein, daß ModetexterInnen nichts heilig ist, zumal ihr Job der mühseligsten einer ist. Stellen Sie sich mal vor, Sie müßten zu acht bis zehn Fotos, auf denen Ihr Auge alles gestochen scharf sieht, noch etwas hinzudichten, das bisher noch keiner gesehen hat. Zum Beispiel die Sache mit dem Prinzip. Wem fällt schon so was ein?

Ich blättere weiter in dem teuren Papierprodukt und finde sehr viel von dem Zeug, was man so dringend überhaupt nicht braucht, die Musterbeispiele unserer Überflußgesellschaft und unserer Übersättigung an inflationärer Produktion und Konsumtion. Größer, höher, schöner, breiter — Sie wissen schon — ohrenbetäubender, giftiger. Materielle Wünsche dürfen nicht offenbleiben. Überhaupt soll der Mensch sich nach nichts mehr sehnen dürfen — oder müssen? —, und so sind wir heimlich gelangweilt. Scheinbar kann diese Langeweile nur durch eine Steigerung dessen behoben werden, was wir bereits haben. Welch schönes Beispiel im kleinen: Blumen, die wir verschenken wollen, werden in regenbogenfarbiges Cellophanpapier gehüllt und mit lockigen bunten Bändern verziert, weil Blumen an sich wohl verschönerungsbedürftig sind.

Wir leben in der Erwartung einer Eskalation ins Unendliche. Umwelt? Och.

Epochenvermischende Schöpfungsverfahren einer Kollektion

Wie mag heute Mode entstehen? Vielleicht so: Heut' geh'n wir ins Archiv und seh'n uns an, was die Leute 1923 getragen haben, und das mischen wir dann mit 1942 auf, 1914 mit 1958; 1964 aber pur. Und so weiter. Na, kenn' ick doch allet. Nur die Preise sind neu. Allein für ein Swingermäntelchen muß eine heute mehr hinblättern, als ein andere Stütze bekommt.

Neulich sah ich in einer Ku'damm-Boutique ein solches Kleidungsstück. Bißchen verstaubtes, unfarbenes Braungrau; vielleicht Rattenfell. Sehr schlicht. Auf dem Preisschild stand: „Swinger. Gerupfter Nerz. 28.000,— DM.“ In Worten: achtundzwanzigtausend. Ehrenwort. Ich lehnte meinen Kopf aufschluchzend an die Scheibe. Die komischen Seiten der Mode sind vielfältig. Wirklich neu an ihr sind die Haartrachten. Dabei denke ich nicht einmal an die lustigen und schrillen Punk-Frisuren oder an den Irokesenlook. Nein, ich meine die neuen Kartoffelfelderlocken und die Rattenfraßfrisuren. Dafür lassen die Leute viel Geld beim Friseur, und wenn sie rauskommen, sehen sie aus wie ein geplatztes Sofakissen.

Modeberichte im Fernsehen sind spannend und ulkig. Wichtig für die Models (früher Mannequins) ist, wie sie schri-schra-schreiten. Für die achtziger Jahre galt, den rechten Fuß etwas versetzt vor den linken zuerst mit dem Ballen aufzusetzen und gleichzeitig Hüft- und Schulterschwung diametral entgegengesetzt zu verschrauben. Haben Sie mal versucht, auf der Straße so zu gehen, zu laufen, zu schreiten? Versuchen Sie es doch mal, und beobachten Sie dabei den Gesichtsausdruck der Passanten, die Sie dabei beobachten.

Für dieses epochenvermischende Schöpfungsverfahren einer Kollektion wird ein Millionenaufwand nur fürs Vorzeigen getrieben und eine rasende Jagd konkurrierender Modehäuser veranstaltet. Jedes halbe Jahr muß eine neue Kollektion raus, der Aufwand rechnerisch wieder rein plus Profit.

Aus einer gewissen Entfernung betrachtet, wirkt diese Hektik um ein Konsumgut, für das ein Bedarf nur durch die Bedrängungspsychologie der Werbung geschaffen wurde, faszinierend. Das ganze Gedöns geschieht indessen nur auf einem sehr kleinen Teil dieses Planeten und nur für sehr wenige Leute. Die Mehrzahl dieser Lebewesen ist die meiste Zeit damit beschäftigt, sich gegenseitig aus den absurdesten Gründen zu schlachten. Oder sie verhungern. Oder sie sterben an Seuchen oder durch Naturkatastrophen. Wir üben jetzt mal Zusammenhangsdenken.

Gut, ich will den Modemachern nicht ins Geschäft spucken, zumal mich ihre partielle Realitätsferne rührt. Unter ihnen gibt es welche, die glauben, daß sich der Mensch qua Mode verändern möchte. Ich fürchte, da hängen sie einem Irrglauben an. Denn wie ich den Menschen bis jetzt kennengelernt habe, findet er sich allgemein fabelhaft. (Seine quälenden neurotischen und auch normalen Schuldgefühle lassen wir hier mal ausgeklammert.) Er ist sich selbst das Liebste auf der Welt und möchte sich keineswegs verändern. Die Crux dabei: Er fühlt sich nicht genug geliebt. Und dieses Defizit sucht er mit allen Mitteln, die zu einem Ersatz taugen, auszufüllen: mit Macht und/oder Geld. Er versucht, sich attraktiver und damit — wie er meint — liebenswerter durch Verschönerung herzurichten. Dazu braucht er Schminke und viele Plünnen mit Pailletten, Federn und Rüschen. Hier ist eine der schönen Marktlücken, die die menschliche Psyche dem Profit eröffnet. Diese und sich selbst nehmen die Modemacher sehr ernst.