KABBARLI, DIE G6ROSSMUTTER

■ Die Irin Daisy Bates, Imperialistin und Snob, teilte jahrzehntelang das Leben der australischen Ureinwohner

Die Irin Daisy Bates, Imperialistin und Snob, teilte jahrzehntelang das Leben der australischen Ureinwohner.

VONELKEHOPPE

1938. In einem kleinen Zelt in der Nähe von Adelaide, Süd-Australien, schreibt eine 75jährige Frau auf, was sie über die Aborigines, die australischen Ureinwohner, weiß. Und sie weiß viel: Mehr als dreißig Jahre hat sie bei verschiedenen Stämmen gelebt, ihre Sprachen gelernt und war zu ihren Stammesritualen zugelassen. Die Aborigines, die sie entsprechend ihres komplizierten Verwandtschaftssystems eingeordnet hatten, nannten sie Kabbarli: Großmutter. „Nach zehn Jahren“, so schreibt sie in ihren Lebenserinnerungen, „war ich mehr denn je davon überzeugt, daß ich diese Menschen nicht alleinlassen konnte. (...) So wild und so einfach, so verloren und hilflos waren sie, daß sie zu meiner Verantwortung geworden waren.“ Gleichzeitig gesteht sie sich die Aussichtslosigkeit ihres Versuches ein, die Ureinwohner vor den Einflüssen der weißen Zivilisation isolieren zu können.

Heute erinnert nur noch ein Gedenkstein in der australischen Halbwüste an die ungewöhnliche Lebensgeschichte dieser Frau, von der eine Zeitgenossin einmal sagte: „Sie war eine Imperialistin, ein fürchterlicher Snob... eine großartige alte Dame.“

Leben im Sieben- Quadratmeter-Zelt

Daisy May Bates wurde am 16.Oktober 1863 als Daisy O'Dwyer in Tipperary/Irland geboren. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter lebte sie bei der Großmutter und kam mit acht Jahren in die Obhut einer Familie nach London, bei der sie aufwuchs. Mit 21 Jahren emigrierte sie nach Australien, in der Hoffnung, ihre Lungentuberkulose zu kurieren. Sie arbeitete zunächst als Gouvernante und heiratete bald den Rinderzüchter Jack Bates. Das Verhältnis zu ihrem Mann und dem ein Jahr später geborenen Sohn Arnold war sehr distanziert. Sie werden in ihren Aufzeichnungen nicht erwähnt. Zehn Jahre später, 1894, kehrte Daisy Bates ohne ihre Familie nach England zurück, wo sie als Journalistin für den Review of Reviews arbeitete.

Im Auftrag der Londoner Times kommt sie 1899 wieder nach Australien, um den Gerüchten über die grausame Behandlung australischer Ureinwohner durch weiße Siedler in Westaustralien auf den Grund zu gehen. Nach sechsmonatigen Recherchen übermittelt Bates in ihrem Bericht nach London, daß die australischen Ureinwohner unklug verwaltet, jedoch nicht mißhandelt würden. Für kurze Zeit lebt Bates auf Roebuck Plains, im Nordwesten Australiens, wo Stämme aus der Umgebung Broomes in Lagern leben. Ihr Interesse an den Vorgängen in den Lagern führt dazu, daß sie jede freie Minute dazu verwendet, die Sprache und Sozialstruktur der Aborigines zu erforschen und zu dokumentieren. „Ich erkannte, daß der australische Eingeborene nicht verschlossen, sondern eher sprachlos war. (...) Ich erkannte auch, daß um etwas von Bedeutung zu erstellen, ich mit seiner Mentalität denken und seine Sprache sprechen mußte.“ Diese Erkenntnis bestimmt fortan ihre Bestrebungen: Im Laufe ihres Lebens lernte Bates 188 Dialekte der australischen Ureinwohner und verstand so viel von ihrer Lebensart wie wohl kaum ein anderer weißer Mensch.

Auf Bitte des Oberhaupts der katholischen Kirche in WA, Bishop Gibney, besucht sie eine Mission in Beagle Bay, die von Trappisten- Mönchen geleitet wird und verbringt dort ein paar Monate. Sie gewinnt das Vertrauen der dort lebenden Aborigines, die sie für eine mirruroo-jandu, eine der mit magischen Kräften ausgestatteten einundzwanzig Frauen eines mythischen Urahnen, halten. Nach weiteren acht Monaten, die sie mit Stämmen in der Nähe von Broome verbringt, kehrt sie nach Perth zurück. Dort bekommt sie den Auftrag von der westaustralischen Regierung, den fast ausgestorbenen Bibbulmun Stamm im Südwesten Australiens zu erforschen. Vier Jahre lang verbringt Bates im Maamba Reservat mit den dahinsiechenden Überlebenden dieses einstmals großen Stammes mit seinen unzähligen Totemgruppen. Unter extremen klimatischen Witterungsbedingungen lebt sie dort in einem sieben Quadratmeter großen Zelt.

Morgentoilette und Schnürstiefel

Trotz des extremen Klimas und ihrer primitiven Lebensumstände beginnt jeder Tag für sie mit einer pingeligen Morgentoilette, die sie zeitlebens beibehielt: Wie zu Zeiten Queen Victorias kleidete sie sich in einem langen schwarzen Rock, schwarzen Schnürstiefeln und Strümpfen, einer weißen Bluse mit Stehkragen und Samtband. Tagsüber und abends am Lagerfeuer sammelt sie Bruchstücke der Bibbulmun-Dialekte, alte Legenden und Informationen über die Gewohnheiten und Traditionen: der verzweifelte Versuch, eine vergangene Nation heraufzubeschwören, deren wenige und heimatlose Vertreter in Maamba dahinvegetieren.

„Die veränderte Nahrung, Umwelt und Lebenseinstellung, das Begraben der alten Traditionen, Gewohnheiten und Verbote und der Zusammenbruch ihrer Gesetze“, resümiert sie, „trugen zu ihrer Degeneration bei, zuerst der des Individuums, dann zu der der ganzen Rasse.“ Trotz dieser Erkenntnis bezeichnet Bates die Pioniere Westaustraliens in ihren Aufzeichnungen als gütige Menschen, die nur das Wohlergehen der Ureinwohner im Sinn haben, und zweifelt zu keinem Zeitpunkt an der Rechtmäßigkeit der Besiedlung Australiens durch die Briten. Diese Einstellung prägt ihr Denken und ist bestimmend für ihre Motivation und ihr Handeln.

„Der australische Eingeborene kann allen Grausamkeiten der Natur, höllischen Dürren und mächtigen Überschwemmungen, dem Horror des Durstes und des Hungers widerstehen — aber er kann nicht der Zivilisation trotzen. (...) Es besteht keine Hoffnung für den Schutz des Steinzeitalters vor dem 20. Jahrhundert.“ Ihre Aufgabe sieht sie darin, dieser ihrer Meinung nach aussterbenden Rasse zu helfen.

In den Zeitraum, in dem Bates für die westaustralische Regierung gearbeitet hat, fällt das für sie wohl schockierendste Erlebnis, ihr Besuch auf den „Todesinseln“ Bernier und Dorré. 1904 hatte die Regierung Westaustraliens auf Anraten eines Anthropologen aus Queensland Krankenhäuser auf beiden unbewohnten Inseln bauen lassen. Ungeachtet ihrer Stammeszugehörigkeit und Verwandtschaftsverhältnisse, die eine wichtige Rolle für die Aborigines im Umgang miteinander spielen, wurden alle kranken Männer und Frauen auf dem Festland zusammengetrieben und nach Geschlechtern getrennt in die Krankenhäuser gebracht. Das Elend der kranken und verstörten Menschen verfolgt Bates, die sich 1910 mit einer Expedition der Cambridge University ein Jahr lang auf den Inseln aufhält.

1912, nach acht Jahren, beendet Daisy Bates ihre Arbeit für die westaustralische Regierung. Im Alter von nunmehr zweiundfünfzig Jahren gesteht sie sich ein: „Zu diesem Zeitpunkt war ich genauso ein eingefleischter Wanderer, eine Nomadin, wie die Aborigines.“ So lang und eng war der Kontakt mit ihnen, daß es ihr unmöglich ist, dieses Leben aufzugeben. „Ich erkannte, daß sie uns verließen. Und ich mußte ihren Niedergang erträglich machen.“ Sie beschließt, den Aborigines den Rest ihres Lebens zu widmen, mit ihnen zu leben und ihre ethnologischen Studien voranzutreiben. In den folgenden zwei Jahren lebt sie mit Stämmen in Eucla, nahe der Grenze zu Südaustralien. Unermüdlich, tagein, tagaus, kümmert sie sich um die Alten und Schwachen, versorgt sie medizinisch und mit Lebensmitteln wie Mehl, Zucker und Tee. Von Eucla zieht sie nach Fowlers Bay und lebt dort bis 1918, als eine Krankheit sie zwingt, nach Adelaide zurückzukehren. Aber schon ein Jahr später schlägt sie ihr Camp in der Nähe von Ooldea auf, einer Gleisarbeitersiedlung an der Transkontinentalen Eisenbahn, wo sie 16 Jahre ihres Lebens verbringen sollte. In der extremen Hitze dieser Region mit ihren Sandstürmen und kalten Winternächten widmet sie sich der Versorgung herumziehender Aborigines. Viele von ihnen haben von Kabbarli gehört und kommen, um ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Daisy Bates versorgt sie alle, kleidet sie ein und gibt ihnen zu essen. Nachdem sie ihr ganzes Vermögen veräußert hat, verkauft sie zu guter Letzt ein Grundstück in Perth, das ihr im Alter als Wohnsitz dienen sollte.

Für ihre Arbeit bekam Bates keinerlei finanzielle Unterstützung, weder von der Regierung noch von wohltätigen Organisationen. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie mit dem Schreiben von Artikeln, von denen sie im Laufe ihres Lebens 270 verfaßte. Ihr Leben in dieser isolierten Region Australiens war von harten Entbehrungen gekennzeichnet, doch zu keinem Zeitpunkt denkt sie daran aufzugeben.

Mit 80 Jahren zurück in die Halbwüste

1929 wütet ein Buschfeuer in Ooldea, und Bates vergräbt in letzter Minute mit Hilfe von Aborigines ihre Manuskripte, die Früchte lebenslanger Arbeit. Zu diesem Zeitpunkt erkennt sie, daß ihre eigentliche Arbeit, nämlich ihre Aufzeichnungen zu sondieren und auszuwerten, noch vor ihr liegt. Aufzeichnungen von 35 Jahren, die sie bei all ihren Reisen mitgenommen hat, liegen unbearbeitet in alten Fässern in ihrem Zeltlager. Dies ist das Ende ihres Lebensabschnittes in Ooldea. 1938 kehrt sie nach Adelaide zurück. Mit Hilfe eines Stipendiums beginnt die nunmehr Fünfundsiebzigjährige, ihre Aufzeichnungen für die Nationalbibliothek anzufertigen. Das Stipendium ist jedoch so gering, daß sie in einem Zelt in Pyap lebt. Die über einen Zeitraum von vier Jahren angefertigten Aufzeichnungen füllen heute fast zehn Meter Regalfläche in der Nationalbibliothek in Canberra. Vier Jahre lang schreibt sie für die Nationalbibliothek, dann kehrt sie im Alter von über 80 Jahren zurück in die Halbwüste Australiens, diesmal nach Wynbring, 250 Kilometer östlich von Ooldea. Hier lebt sie weitere fünf Jahre, bis ihr Gesundheitszustand sie zwingt, nach Adelaide zurückzukehren, wo sie am 18. April 1951 in einem Altersheim stirbt.

Daisy Bates hinterließ ein Vermögen von 66 Pfund Sterling. Alles andere hatte ihre Mission aufgezehrt, nämlich den aus ihrer Sicht unvermeidlichen Untergang der Aborigines erträglicher und würdiger zu gestalten und ihre Kultur für die Nachwelt zu erhalten. Was sie antrieb, war eine Mischung aus Mitgefühl und ethnologischem Ehrgeiz.

Noch heute, vierzig Jahre nach ihrem Tod, hält die Kontroverse um Bates Errungenschaften an. Ihre umstrittenen ethnologischen Aufzeichnungen dienten der Fachwelt zwar als Quelle, sie wurden jedoch nie veröffentlicht. Ist in alten Schulbüchern noch die Rede von der White Queen of the Outback, kritisieren die australischen Aborigines Bates insbesondere für ihren Paternalismus.

Daisy Bates verkörpert einen Anachronismus des 19. Jahrhunderts, der bis in die Gegenwart reicht. Nicht zuletzt darin liegt die Faszination für die Auseinandersetzug mit ihrer Lebensgeschichte.