Fura light oder Das perfektionierte Chaos

■ Das Publikum blieb: Der Auftritt der katalanischen La Fura dels Baus im Berliner Tempodrom

Wenn die geschulte Theaterbesucherin das kleine Schwarze im Schrank läßt, die Stöckelschuhe verschmäht, statt dessen den Blaumann überstreift und mit zittrigen Knien in die Turnschuhe steigt, dann ist es wieder soweit: Die Fura dels Baus sind in der Stadt. Ungeläutert, wie das Programmheft verspricht. „Wir haben eine eigene Vermittlungsebene“, steht da geschrieben, harmlos und voller Unschuld. Seit zehn Jahren machen die einstigen Avantgardisten in Sachen Paniktheater; ihr Ziel ist das Theater als persönliches Erlebnis, als Katharsis. In der Trilogie „Accions“, „Suz/o/Suz“ und „Tier Mon“ flexen sie Autos auseinander und schmeißen die scharfkantigen Teile ins Publikum, dann wieder inszenieren sie Wasserleichen und werfen mit Gedärmen, Blut und Speichel.

Mit Gewalt allerdings wollen die „professionellen Autodidakten“, Schauspieler, Musiker, bildende Künstler und Techniker, nichts gemein haben: „Es handelt sich nicht um Gewalt, sondern um das Eindringen in einen Raum, der beim klassischen Theater strikt dem Künstler vorbehalten war.“ Eine erhebende Erklärung, deren Zugang sich jedoch zeitweilig verschließt, wenn man in höchster Panik einem heranrasenden Gefährt ausweicht. Denn bei den Fura dels Baus ist das Publikum die Knautschzone.

Im Berliner Kulturzelt Tempodrom, wo die Gruppe vom 10. bis 27. September ihr Stück „Noun“ vorstellt, riecht es nach Benzin. Erster Gedanke: Kettensägen. Doch die Show beginnt ungewöhnlich blutarm. Von einem vier Meter hoch angebrachten Quadrat aus Stahlgerüst, Schläuchen und Maschinen hängen rote Kokons. Sie sind mit Wasser gefüllt, menschliche Körper schimmern durch. Eine Liveband mischt kybernetisch erzeugte Töne mit Flamencogesang, der erste Hinweis auf das Thema von „Noun“: die Beziehung zwischen Mensch und Maschine. Darstellungsform: das schaffende Chaos.

Ein autoritärer Roboter durchleuchtet den Inhalt der Kokons, befindet ihn für mißgebildet und leitet die Frühgeburt ein. Nackte Frauenkörper — erstmals spielen bei den Fura Frauen mit — schälen sich kopfüber aus der Umhüllung. Wie Schweinehälften auf dem Fleischerhaken hängen sie aus den Gebärtüten. Zu spät bemerken die gebannten Zuschauer den Angriff. Eine Plattform rast von hinten durch die davonspritzende Menge, eskortiert von zwei autoscooterähnlichen Gefährten. Wie abgetriebene Föten werden die Leiber in eine Kiste geworfen und wegkutschiert. Die Masse nimmt empört den Kampf mit der Maschine auf — womit die Treibjagd aufs Publikum endgültig beginnt. Wie wildgeworden rasen die stinkenden Scooter durch die zurückweichende Menge, schaumspritzende Schläuche werden über die Köpfe geschleudert. Getöse, Schreie, Aggression. Und endlich: Der Adrenalinspiegel steigt. Wie Kreisel drehen sich die zahlenden Gäste panisch um die eigene Achse, um Angriffen auszuweichen. Plötzlich fährt das Gerüst herunter. Weniger Mutige flüchten aus dem Karree, der Rest ist im Chaos eingekesselt. Indes geht es dem Roboter an die Kabel.

Da plötzlich kippt die Inszenierung. Statt uns weiter die wohlverdiente und mit 25 Mark Eintritt bezahlte Angst einzujagen, scheinen sich die Akteure nur noch sich selbst zu widmen. Unversehens ist der Zuschauer wirklich zum Zuschauer degradiert. Auf dem wieder hochgefahrenen Gerüst stellen die Akteure entrückt eine symbiotische Beziehung zur Maschine her. Das Urchaos wird zur Ordnung, die sich im Schlußbild ausdrückt: Vier Leiber, die an Seilen hängend, in der Raummitte eine symmetrische Form bilden.

Dann passiert, was den Fura dels Baus noch nie passiert ist. Das Publikum bleibt. Wo sonst alle erleichtert das Weite suchten, will im Tempodrom keiner gehen. Zu wenig hatte man erlebt im Erlebnistheater, zu wenig Angst gespürt. Die Fura dels Baus wurden unversehens Opfer ihres martialischen Rufs. Ihr Markenzeichen, die garantierte Achselnässe, trat nicht ein. Das mag zum einen an einer gewissen Abhärtung liegen, zum anderen jedoch an der merklich softeren Gangart der 22 Künstler, die sich mehr als Klassiker denn als Avantgardisten verstanden wissen wollen. Das Stück wirkte zu kalkuliert, ein leicht zu konsumierender Abklatsch der einst so archaischen Darbietung. Das Chaos, es kam schlicht zu gewollt, zu inszeniert daher — Fura light.

Was die Fura dels Baus als Weiterentwicklung präsentieren, riecht schwer nach Massenpublikum. Ein Verdacht — der so abwegig nicht ist: „Noun“ wurde zur Eröffnung der Weltausstellung Expo 92 in Sevilla vorgeführt. Auch die Eröffnung der Olympischen Spiele in Barcelona war ein Werk der Baus. Die Olympianummer sei nur ein Experimentierzweig und habe nichts mit ihrer Theaterarbeit zu tun, wehrt die Gruppe ab. Ein fadenscheiniges Argument.

„Das Ende ist erst der Anfang“, heißt der Untertitel von „Noun“. Bleibt nur zu hoffen, daß „Noun“ nicht der Anfang vom Ende ist. Denn viel schlimmer als das Urteil einer Zuschauerin kann es für die einst so gefürchteten Fura dels Baus eigentlich nicht mehr kommen: „Nett war das, wirklich nett.“ Michaela Schießl