Berichtigung

Die Tatsache, daß wir heute nicht an den 400. Todestag des Philosophen Michel de Montaigne erinnern, illustriert aufs Bedauerlichste die Einsicht, daß wahre Liebe, falsch verstanden, zu nichts denn Unglück führt: wahre Liebe richtet sich begehrlich auf ihren Gegenstand; die wahre Liebe, falsch verstanden, richtet sich auf sich selbst. So haben wir Montaigne wahrhaft, aber falsch geliebt: denn dieses morgige Datum gab Anlaß zu ausgiebigen Gesprächen mit den Kenntnisreichsten unter seinen LiebhaberInnen, grundiert von Treue und Wahn, entzündlich gerichtet auf die schönsten redaktionellen Hoffnungen, die in einer tageszeitunglichen Würdigung gipfeln sollten, welche die Lektüre seiner Schriften dem geneigten Publikum als unausweichlich unbedingt, aber doch zierlich darzustellen habe. Wir denken mit Rührung an diese Gespräche zurück, deren Gedächtnis sich nun als das einzige erweist, was wir vorzuweisen haben: diverse Umstände der widrigsten Art haben dazu geführt, daß, wie viel zu oft hienieden, die Absicht selbst sich an sich delektieren muß. Sollen wir, zerknirscht und demütig, die Zurkenntnisnahme anderer Würdigungen in anderen Blättern Ihnen nahelegen, Sie noch einmal hinausschicken in die umständliche, ach so oft feindliche Welt des Straßenverkehrs und der Niederschläge, damit Sie die Konkurrenzpapiere erwerben? Nein, das tun wir nicht. Wir wissen

Michel de MontaigneKupferstich von St. Aubin

nicht, was die KollegInnen empfehlen, wir sagen fest und schnörkellos: Montaigne lesen. Er ist der Sanfteste unter den Ehrlichen, der Klügste unter den Sanften, der Witzigste unter den Klugen, der Schlichteste unter den Witzigen und der Eleganteste unter den Schlichten. Er ist der einzige Bürgermeister unter den Philosophen, aber ein Nichtbürger in der Gelehrtenrepublik. Er ist ein Reisender, der Kopf und Füße bewegt. Er ist gebildet ohne Dünkel und melancholisch ohne Depression, er begrübelt Leben wie Tod. Er ist höflich mit seinen LeserInnen und schamlos mit sich selbst, er ist kritisch ohne Vorwurf und lässig ohne Verachtung. Er ist ein Philosoph für alle alphabetisierten Menschenwesen, er macht keine Kopfschmerzen, sondern denselben frei und glücklich. Er ist außerdem ganz sträflich unterschätzt, denn für den akademischen Kanon ist er zu sinnlich und bescheiden, zu sehr aus Fleisch und Blut noch im Papier. Die Philosophiegeschichte, die nur sich selber kennt, hat diesen Manne zum Onkel gemacht — enthaart, entbeint, entzahnt und ohne genealogische Bedeutung. Die EnkelInnen der Aufklärung sollten sich mit ihm aufs Lager werfen und Zwiesprache halten: Liebe geht nämlich durch den Kopf. Also los! Die Sache duldet, wie die Liebe selbst, auf keinen Fall den Aufschub.