documenta9 — spot9

■ Bill Viola — Im Freien Fall

Spot ist eine Serie der taz zu den einzelnen Arbeiten oder Künstler(inne)n auf der documenta9 in Kassel. Bis zum 20. September.

Brunnen sind geheimnisvolle und lockende Gebilde. Ihre schwindelnde Tiefe kitzelt die Magengrube derer, die von oben hineinsehen. Der Archäologie dienen ihre Sedimente als wertvolle Fundgruben. Sie und ihre Geschwister, Höhlen und Schächte, sind daher randvoll mit Sagen- und Märchenfiguren. Spannender als der Blick in sie hinein ist der Traum, auf ihrem Grund zu stehen. Ein Brunnen wäre ein besonders perfider Kerker, weil er den Blick auf den freien Himmel zuließe. Wie stark die durch eine solche Brunnenphantasie erregten Ohnmachtsgefühle sein können, zeigt das weltweite Erschrecken, als vor wenigen Jahren in einem amerikanischen Dorf ein Kleinkind in den Brunnen gefallen war und mühsam herausgebuddelt wurde.

Ein Kunstwerk kann solche Gefühle spielerisch hervorrufen. Das von Anish Kapoor gebaute schwarze Loch (s. taz vom 5.8.92) erlaubt den Blick in die Tiefe; Bill Viola dagegen steigt in den Keller. Wer in der lichten Documenta-Halle durch eine enge Schleuse sein schwarzes Kabinett betritt, stolpert zunächst von Finsternis geblendet gegen andere BesucherInnen, die gleichfalls wie die Grottenolme einen Zugang suchen. Eine Gazewand fängt sie ein wie ein Spinnennetz. Mit zunehmender Anpassung der Pupillen an die Dunkelheit wird das Vortasten zielstrebiger. Farbige Lichter hängen in der Schwärze. Sie gehören zu zwei Videoprojektoren, die auf einem Endlosband einen Film auf die Gazewand werfen. Sie ist drei Meter schmal und endlose sieben Meter hoch. Auf dem Grund dieses Brunnens steht das Publikum und sieht einem kopfüber fallenden Mann zu. Minutenlang dreht er sich gemächlich. Gleichzeitig werden die Ohren gestopft mit dem Sound einer schallgedämpften Riesenmaschine. Das Zeitgefühl wankt, denn der Vorgang wird mit extremer Zeitlupe zerdehnt. Auch die Schwerkraft verliert an Gewicht. Wer in der Eisenbahn sitzend die Augen schließt, kann sich vorstellen, in die Gegenrichtung zu fahren; ähnlich wirkt hier das Fallen gleichzeitig wie ein Aufwärtssteigen. Am Ende des Films taucht der Körper, überraschend beschleunigt, in ein Wasserbecken ein. Der Lärm steigert sich zum Donnergrollen, und in einem Theaterzauber verschwindet der Film in einer Ecke der Leinwand. Mit leichter Gänsehaut verläßt das Publikum Violas halluzinierende Geisterbahn. Christoph Danelzik