Das Kinderbuch als Kälteschutz

■ „Deutsche Bilderbuchillustrationen heute“: Eine Ausstellung in der Berliner Stadtbibliothek

Ein fröhliches Schwein schaukelt in den Nachthimmel. An seiner Seite ein buntgefiederter Hahn, zwischen seinen Knien eine Maus. Sonst sind da nur die Sterne. Die Schaukel hängt an der Mondsichel. Wer denkt sich solche Bilder aus? Helme Heine zum Beispiel, ein Kinderbuchillustrator. Arbeiten von Heine und 59 seiner KollegInnen sind derzeit im Foyer der Berliner Stadtbibliothek zu sehen. Die Ausstellung wurde während des 23. Weltkongresses für Kinder- und Jugendliteratur in Berlin unter dem Titel „Deutsche Bilderbuchillustrationen heute“ eröffnet.

In deutschen Bilderbüchern ist die Welt noch in Ordnung. Unberührte Natur, in der sich Fabelwesen tummeln und exotische Pflanzen wuchern, regiert die Phantasiewelt der Illustratoren. Zwar läßt die Berlinerin Lilo Fromm finstere Wolken durch ein Bild der „Mondin“ ziehen, zwar ist der krokodilschwänzige „große Eisfresser“ von Cleo-Petra Kunze ein bißchen unheimlich. Und schon gar das surrealistische „Froschkönigs“-Szenario von Binette Schroeder. Aber von den Problemen des Alltags sind die meisten Illustrationen Lichtjahre entfernt. Janosch läßt den kleinen Bären nebst Tiger und Tigerente auf dem Tisch tanzen, Helmut Spanner porträtiert einen Teddy mit Fäustlingen als Kälteschutz über den Ohren: schöne heile Welt des Kinderbuchs.

Wirklich des „Kinder“-Buchs? Sind solche Bildergeschichten Trost und Heilmittel für die Kinder, die heute schon früh via Medien mit einer Flut von Katastrophen, Gewalt, Krieg, Leid und Tod konfrontiert werden? Vielleicht äußern sich hier auch die heimliche Sehnsüchte der erwachsenen Buchgestalter und Autoren.

Neben mannigfaltigen Stilen lassen sich an den Exponaten im Foyer der Stadtbibliothek auch Trends ablesen. Vorbei sind die Zeiten der bildnerisch kargen Reduktion auf das Wesentliche. Kind kann wieder in Farben und Details schwelgen. Starke Einflüsse gingen in den letzten Jahren von dem Berliner Klaus Ensikat aus, von den humorvollen Bildern Helme Heines und dem zarten Strich Friedrich Karl Waechters.

In der Stadtbibliothek finden erstmals Ost- und WestillustratorInnen ein gemeinsames Forum. Zwei Organisatoren haben je 30 Bilderbuchmaler aus der ehemaligen DDR und der ehemaligen BRD ausgewählt: Die Redakteurin Gisela Stottele (West) und der Illustrator Manfred Bofinger (Ost). Sie suchten die aus, die kontinuierlich für Kinderbücher gearbeitet haben. Auch waren sie sich einig: „Wir wollten möglichst viele verschiedene wichtige Handschriften zeigen.“ Einen Anspruch auf Vollständigkeit haben sie nicht.

Ein Anliegen der Veranstalter war es, viele der bekannten ostdeutschen IllustratorInnen, die mit der Vereinigung ebenso von der Bildfläche verschwunden sind wie ihre Bücher und Verlage, wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Der Katalog bietet neben zahlreichen Abbildungen Lebensdaten und Adressen der Ausstellungsteilnehmer. Bofinger hofft, daß der Katalog für künftige Auftraggeber ein Wegweiser sein kann.

Zwei unterschiedliche Buch- und Bildkulturen — Ost und West — wollte die Ausstellung nicht zeigen. Im Katalog-Vorwort heißt es: „Mit der Vereinigung scheint die Trennlinie durchlässiger.“ Und wirklich: Stilistische Vielfalt existiert ungeachtet der ehemaligen Grenzen.

Hübsch macht sie sich im nüchternen Bibliotheks-Ambiente, die Ausstellung mit Bildern der kleinen Fluchten für kleine Leute. Vielleicht gefällt sie nicht nur Kindern, sondern auch denen, die sich wie Marcel Proust an ihre Kindheitslektüre erinnern: „Es gibt vielleicht keine Tage unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir glaubten, verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben.“ Marion Löhndorf

Noch bis zum 29. September in der Stadtbibliothek, Breite Str. 32-34, 1020 Berlin