Zurück nach Ellis Island

Offene Grenzen — ein ewiger amerikanischer Traum  ■ AUS NEW YORK ANDREA BÖHM

Ein bißchen mulmig war Antonia Crater bei dem Gedanken zumute, noch einmal zurückzukommen. Obwohl es dieses Mal einen Sitzplatz auf der Fähre gab. Die Skyline von Manhattan glitzerte, als hätte sie jemand mit einem gigantischen Fensterleder poliert. Und als das Schiff die Freiheitsstatue passierte, verfiel niemand in ergriffenes Schweigen oder zerdrückte gar ein paar Tränen. Statt dessen schubsten die Touristenväter ihre Familienrudel vor die Reling — im Hintergrund die alte Dame mit der Fackel und den toten Augen. Dann klickten die Kameras.

Antonia Crater ist diese Strecke schon einmal gefahren — im August 1903. Damals war sie vier Jahre alt, hieß Antonia Liest, sprach kein Wort Englisch und träumte nachts von den Nachbarskindern in der Schöneberger Straße in Magdeburg. Zusammen mit ihrem Bruder und ihren Eltern stand sie eingepfercht auf einer überfüllten Fähre, die Immigranten vom New Yorker Hafen nach Ellis Island brachte. Auf dieser kleinen Insel zwischen der Freiheitsstatue und der Südspitze Manhattans hatte die US-Einwanderungsbehörde ihren Sitz — Nadelöhr für die Neuankömmlinge und für manche auch die Endstation. 89 Jahre später steht Antonia Crater, geborene Liest, Rentnerin aus dem US-Bundesstaat Oregon wieder in der alten Ankunftshalle zwischen Landkarten, Schautafeln und Photowänden. Ein wenig muß sie um ihre Fassung ringen.

Heute ist Ellis Island ein Museum. Genauer gesagt: Es ist die Respektbezeugung einer Nation gegenüber ihren Immigranten. „In Gedenken an den Mut und die Willensstärke, mit der Männer und Frauen ihre Heimat verlassen und in einem unbekannten Land neue Chancen gesucht haben“, steht am Eingang zu lesen.

Dunkle Überfahrt im Bauch des Schiffes

Schiffskarten für die dritte Klasse auf der „Zeeland“ von Antwerpen nach New York — mehr konnte sich Wilhelm Liest, Arbeiter in einer Magdeburger Eisengießerei nicht leisten. Die Quartiere waren unter Deck, ohne Frischluft und voller Läuse, die Verpflegung war schlecht. Ein junger Steward nahm seine Tochter manchmal mit auf das Zwischendeck, um ein paar Orangen zu fangen, die die Passagiere der ersten und zweiten Klasse herunterwarfen. Sonst kann sie sich nur noch an ihre Seekrankheit und die Freiheitsstatue erinnern, obwohl sie damals überhaupt nicht verstand, warum so vielen Passagieren beim Anblick einer Riesenpuppe die Tränen kamen. Ihr Vater hob sie an der Reling auf den Arm. „Sieh dir das gut an“, sagte er, „deswegen sind wir hergekommen.“

Siebzehn Jahre zuvor, 1886, war die Statue eingeweiht worden — just zu einem Zeitpunkt, als in den Vereinigten Staaten Stimmen gegen die Politik der offenen Grenzen lauter wurden. „Gebt mir Eure Erschöpften, Eure Armen und Bedrängten, die sich danach sehnen, frei zu atmen“, steht auf dem Sockel der Freiheitsstatue zu lesen. Doch die Reichen kamen sehr viel schneller in den Genuß freier Luft und durften im New Yorker Hafen nach einer kurzen Untersuchung direkt von Bord gehen. Die große Mehrheit der Immigranten reiste dritte Klasse und mußte im Hafen auf die Fähre nach Ellis Island umsteigen.

Die Insel war nicht nur Eingangstor, sondern auch Seismograph für die Stimmung im Lande gegenüber Immigranten. Die war seit über einem Jahrzehnt sehr gemischt. Waren es Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem Iren, Engländer, Deutsche und Skandinavier, die nach Amerika kamen, stellten um die Jahrhundertwende Italiener, Russen, Polen, Griechen, Spanier die Mehrheit. Arbeit zu finden, war kein Problem. Ohne Einwanderer hätte die Stahl-, Kohle-, Eisen-, und Holzindustrie in dieser Zeit nicht expandieren können. Aber je dunkler die Hautfarbe, je fremder die Gesichter, desto feindseliger die Begrüßung derer, die schon etwas länger da waren.

Anfang der neunziger Jahre kam es zu ersten Ausschreitungen und Lynchmorden gegen osteuropäische, italienische und jüdische Minderheiten, die damals als Sinnbild für Radikalität und politische Unruhe galten. Der Ruf nach Restriktionen an den Grenzen ließ in Washington nicht lange auf sich warten. Organisationen wie die reaktionäre „Immigration Resistance League“ lieferten sich verbale Gefechte mit Lobbygruppen für Einwanderer — darunter je nach Konjunkturlage bestimmte Industrie- und Handwerksverbände oder ethnische Vereine wie die „German-American Alliance“ oder der irische „Ancient Order of Hibernians“. Doch erstere gewannen langsam an Boden: 1882 verhängte der Kongreß ein Einwanderungsverbot für Chinesen; ab 1891 wurden „Mittellose, Polygamisten und Personen mit ekelhaften oder ansteckenden Krankheiten“ wieder deportiert.

Manchmal 12.000 Menschen an einem Tag

Als die Liests im August 1903 nach Ellis Island kamen, war gerade ein neues Gesetz in Kraft getreten: Erstmals wurden die Transportunternehmen für die Einreise unerwünschter Personen haftbar gemacht — eine Maßnahme, wie man sie heute aus den Asylgesetzen westeuropäischer Länder kennt. Schiffahrtsgesellschaften, die Passagiere mit „ekelhaften und ansteckenden Krankheiten“ transportierten, mußten diese auf eigene Kosten zurückbringen. Zudem hatte der Kongreß die Liste der unerwünschten Personen erweitert auf Epileptiker, Prostituierte, Bettler, Anarchisten und „Personen, die den Sturz der amerikanischen Regierung oder die Ermordung von Regierungsmitgliedern oder Beamten“ propagierten. Nun war Wilhelm Liest ein Arbeiter und vertrat die Ansicht, daß alle Menschen gleich seien. Aber nichts lag ihm ferner, als in seiner neuen Heimat eine Revolution anzuzetteln. Die Inspektoren befragten ihn zwar peinlichst genau, konnten aber nichts Verdächtiges feststellen. Ein Schwager aus Brooklyn trat für die Familie als Bürge auf. Innerhalb eines Tages hatten die Liests die Aufnahmeprozedur hinter sich und durften Ellis Island Richtung New York verlassen.

Über 24 Millionen Menschen immigrierten zwischen 1892 und 1954, 16,5 Millionen kamen über Ellis Island. Nur zwei Prozent wurden abgewiesen. Im nachhinein hört sich das reibungslos an, aber aus der Perspektive eines sprachunkundigen und übermüdeten Immigranten war Ellis Island damals einer der gefährlichsten Orte überhaupt. 1903 kamen, allen Restriktionsmaßnahmen zum Trotz, rund 860.000 Neueinwanderer in die USA — 200.000 mehr als im Vorjahr. An manchen Tagen drängten sich über 12.000 Menschen in der Ankunftshalle.

Aus Sauerkraut mach' „Liberty Cabbage“

Die Behandlung glich dann durchaus den Zuständen, die man heute in deutschen Ausländerbehörden vorfindet: rüder Umgangston seitens der Polizisten, Inspektoren, Ärzte und Dolmetscher, die ihrerseits Zehn- Stunden-Schichten schoben; Korruption und willkürliche Entscheidungen, Einzelne zurückzuschicken oder manchmal monatelang auf der Insel zu internieren. Alpträume von diesem Chaos verfolgten Antonia Liest noch jahrelang. „Außerdem“, sagt sie heute, „war ich damals völlig geschockt, weil ich noch nie Menschen mit anderer Hautfarbe gesehen hatte.“

Erst der Beginn des 1. Weltkriegs 1914 brachte den Verfechtern einer Abschottungspolitik durchschlagenden Erfolg — und ihrer Ideologie einen neuen Namen: der „100-Prozent-Amerikanismus“. Einwanderungsgesetze wurden verschärft, doch im Land äußerte sich der neue Nationalismus — mit einer Ausnahme — nicht in Feindseligkeit gegenüber Immigranten, sondern in einer fürsorglich bis autoritären Umarmung: Sie wurden von Schulen, Kirchen, patriotischen Ortsvereinen und Sportclubs mit einem Amerikanisierungsprogramm überzogen, das vom Sprachkursen über Hilfe bei der Einbürgerung, dem Absingen der Nationalhymne bis zum ungebetenen Unterricht in amerikanischen Hygienestandards reichte. Solchermaßen vereint konzentrierte man sich auf zwei gemeinsame Feindbilder: In Europa WilhelmII., in Amerika die Deutschstämmigen.

Die Liests waren nach den ersten vier Monaten in Brooklyn über Minneapolis an der Westküste gelandet, im Bundesstaat Oregon. Die Eltern hatten 1906 die US-Staatsbürgerschaft angenommen, doch bei Ausbruch des 1. Weltkriegs galten sie wie alle deutschen Immigranten als potentielle „Werkzeuge des Kaisers“. Da half es wenig, daß die große Mehrheit der deutschstämmigen Einwanderer öffentlich den Kriegseintritt der USA unterstützten. Es kam zu Festnahmen wegen angeblicher Spionage oder Sabotage; vielerorts mußten Deutsch- Amerikaner sich mit Fingerabdruck registrieren lassen; in zahlreichen Schulen wurde der Deutschunterricht verboten. Immerhin konnte Antonia Liest 1917 in Newberg, Oregon, ihre erste Stelle als Lehrerin antreten. Für Antonias Mutter, die bis zu ihrem Tod kein Englisch sprach, wurde die Verständigung außerhalb des Hauses immer schwieriger; deutsche Straßen- und Städtenamen ließ man anglisieren. Der „100-Prozent- Amerikanismus“ machte auch vor der Küche nicht halt: Sauerkraut hieß ab sofort „Liberty Cabbage“.

Mit Kriegsende verblaßte das Feindbild der Deutschen, doch es fand sich nahtlos Ersatz: 1919 und 1920 wurden inmitten der ersten Kommunistenhysterie mehrere Hundert ausländische Mitglieder anarchistischer Gruppen und der gerade gegründeten US-KP nach Rußland abgeschoben. „Die Flamme der roten Revolution flackert nur noch schwach in Amerika“, schrieb am 4. Januar 1920 die New York Times.

1921 verabschiedete der Kongreß zum ersten Mal in der US-Geschichte ein Quotengesetz. Die Gesamtzahl der Einwanderer wurde auf 350.000 pro Jahr beschränkt, drei Jahre später gar auf 150.000 herabgesetzt. Pro Land durfte die Zahl der Immigranten drei Prozent der bereits in den USA lebenden Landsleute nicht überschreiten. Zudem beschloß der Kongreß, daß Einwanderungsanträge ab sofort in den US- Konsulaten im Ausland überprüft werden müssen.

Die Restriktionen wurden auch dann nicht gelockert, als die Diktatur der Nationalsozialisten und der Zweite Weltkrieg in Europa eine Flüchtlingswelle auslösten. 250.000 Flüchtlinge fanden zwischen 1934 und 1941 Aufnahme in den USA — im Rahmen der bestehenden Quoten. Die Zahl der Immigranten war, bedingt durch den Krieg, bis 1945 auf 2.600 im Jahr gesunken. Erst drei Jahre nach Kriegsende fand sich im Kongreß eine Mehrheit gegen die asyl- und ausländerfeindlichen Abgeordneten aus dem Süden und dem Mittleren Westen: Mit dem „Displaced Persons Act“ wurde 400.000 Flüchtlingen über einen Zeitraum von vier Jahren die Einreise gestattet. 1953 erhöhte Washington die Quote um weitere 214.000 Visa. Doch für deren Überprüfung brauchte man Ellis Island nicht mehr. 1954 wurden die Aufnahmegebäude auf der Insel geschlossen.

Die Backsteingebäude ließ man verrotten, bis in den achtziger Jahren die Renovierungsarbeiten für den Umbau zum Museum begannen. Doch wer heute Ellis Island besucht, hat nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart vor Augen — und er bekommt einen Vorgeschmack auf die Zukunft. Auf Schautafeln, in Videos und Photomontagen werden die jüngsten Zahlen präsentiert: Noch nie sind so viele Menschen in die USA eingewandert wie in den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts. Die offiziellen Statistiken verzeichnen 7,3 Millionen Menschen — ohne die illegalen Migranten zu berücksichtigen, deren Zahl auf vier Millionen und höher geschätzt wird.

Leere Städte ohne die Neuankömmlinge

Eine Million Zuwanderer hat allein die Stadt New York in den letzten zehn Jahren aufgenommen — und so den Exodus von über 750.000 meist alteingesessenen New Yorkern überlebt. Am schnellsten wächst zur Zeit die dominikanische und kolumbianische Community. In Queens haben sich in den letzten Jahren Russen, Koreaner, Hongkong-Chinesen, Albaner, Polen sowie Angehörige von 113 weiteren Nationalitäten niedergelassen. Die ethnische Zusammensetzung der „neuen“ Immigranten ist bunter denn je.

Diese Entwicklung ist unter anderem jenen Kongreßmitgliedern zu verdanken, die vor fast dreißig Jahren das herrschende Einwanderungsgesetz entstaubten und die Diskriminierung gegen bestimmte Herkunftsländer, vor allem in Asien, aufhoben. Statt dessen wurde im „Immigration and Nationality Act“ von 1965 die Ideologie der „family values“ und des ökonomischen Eigeninteresses umgesetzt: Hauptkriterium der US-Einwanderungspolitik ist seitdem der Familiennachzug und der Bedarf des Arbeitsmarktes. Man entwarf ein bis heute gültiges System von Präferenzen, das vor allem drei Gruppen Chancen auf ein Visum einräumte: Angehörigen von bereits in den USA lebenden Immigranten; Ausländern mit einer Berufsausbildung, die auf dem US-Arbeitsmarkt gebraucht wurde; und schließlich Flüchtlinge. Unmittelbare Verwandte — Ehegatten, Eltern und Kinder — durften ohne zahlenmäßige Begrenzung einwandern. Für entferntere Familienmitglieder wurden Quoten festgesetzt, ebenso für Arbeitsmarktimmigranten und Asylsuchende.

Der Status letzterer wurde bis 1980 nach ideologischen Gesichtspunkten geprüft. Wer aus einem kommunistischen Land kam, war Flüchtling; wer aus einer Rechtsdiktatur geflohen war, schien besser beraten, illegal in den USA unterzukommen. Erst 1980 bequemte sich Washington zu einer Flüchtlingsdefinition, die der Genfer Konvention entsprach. An der Flüchtlingspolitik änderte das wenig: Die Quote für Asylsuchende lag bei lächerlichen 50.000 im Jahr. Sie ist zwar in den letzten Jahren immer wieder erhöht worden, doch über die prozentuale Verteilung der Visa nach Herkunftsländern entscheidet der Präsident. Asylsuchende aus El Salvador hatten folglich unter Reagan und Bush kaum Chancen. Ihr Status ist erst seit zwei Jahren durch ein vorläufiges Bleiberecht gesichert. Vietnamesen standen dagegen lange Zeit die Türen offen. Die Ideologie des Kalten Krieges zieht sich bis heute durch die US- Asylpolitik: Kubanern wird nach einem Gesetz von 1966 automatisch Schutz vor Verfolgung gewährt — haitianische Bootsflüchtlinge werden abgeschoben.

Abschottung ist kein Wahlkampfthema

Bei Immigranten zeigte man sich großzügiger: Einwanderer nutzten das Versprechen des Familiennachzugs weidlich — die festgesetzte Quote von 290.000 pro Jahr wurde weit überschritten. Wären sie nicht gekommen, der Exodus der weißen Mittel- und Oberschicht aus den Großstädten würde sich noch viel dramatischer bemerkbar machen. Durch Einwanderer sind Viertel wieder zum Leben erweckt worden, die vor ein paar Jahren noch Geisterstädten glichen.

Am vielfältigsten ist die Zusammensetzung, wo am wenigsten bezahlt wird. Wer in den USA heute ein Hotel, Restaurant oder eine Textilfabrik betritt, der weiß, wie dringend diese Branchen auf Einwanderer angewiesen sind. Mit dem „amerikanischen Traum“, wenn sie denn einen haben, werden sie sich ungleich schwerer tun als ihre Vorgänger vor hundert Jahren. Zum einen ist ihre Hautfarbe dunkler — zum anderen sind die USA längst nicht mehr das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern des unbegrenzten Verteilungs- und Verteidigungskampfes der weißen Suburbs gegen die zunehmend gemischten Städte.

In den Städten wird sich die Mehrheit der rund eine Million Immigranten und Flüchtlinge niederlassen, die die Einwanderungsbehörde für 1992 prognostiziert hat. In Ellis Island hat man auf den Schautafeln und Tabellen Platz gelassen, um die genauen Zahlen für die neunziger Jahre im Jahr 2000 nachzutragen. Glaubt man einer Umfrage der Zeitschrift Business Week, empfinden das über 60 Prozent der US-Amerikaner als zuviel. Andererseits brennt ihnen dieses Thema zur Zeit nicht unter den Fingernägeln. Und im Gegensatz zu Deutschland kommt hier im Wahlkampf kein Kandidat auf die Idee, mit der Forderung nach Abschottung Stimmen zu fangen. Das hat zum Teil mit politischem Selbstverständnis eines Einwandererlandes zu tun, zum Teil mit der Tatsache, daß jede Einwanderergruppe potentielle Wählerstimmen enthält: fünf Jahre muß der Neuankömmling warten, dann kann er die Staatsbürgerschaft beantragen — und das Wahlrecht.

Außerdem gibt es da noch die alteingessenen Amerikaner, die das Recht auf Einwanderung für eine Frage des Prinzips halten. „Ich habe von diesem Privileg profitiert“, sagt Antonia Crater, „also kann ich es heute anderen nicht verweigern.“