Frankreich liegt im Maastricht-Fieber

Referendum über den Einigungsvertrag am kommenden Sonntag/ Nein-Sager in Siegeslaune/ Zahlreiche Veranstaltungen/ Das Ja beherrscht demgegenüber die Medien/ Ein Votum auch gegen die Machthaber  ■ Aus Paris Bettina Kaps

„Die scheren sich doch einen Dreck um uns.“ Emmanuel spricht von Maastricht. Der 22jährige Student der Betriebswirtschaft hat sich längst entschieden. Er wird am 20. September bei dem Referendum über die Maastrichter Verträge mit Nein stimmen. Dennoch zieht es ihn an diesem sonnigen Samstag nachmittag in den Zénith, eine düstere Halle am Rand von Paris, zur Großkundgebung der drei wichtigsten Maastricht-Gegner: die Gaullisten Philippe Séguin und Charles Pasqua (beide RPR) und der konservative Abgeordnete Philippe de Villiers (UDF) sollen sprechen.

Emmanuel ist aus zig Gründen gegen den Einigungsvertrag, doch zuerst macht er seinem Ärger über die Kampagne Luft, die das Referendum vorbereitet. Sein entrüstetes „die“ zielt nicht etwa auf Brüssler Bürokraten, sondern auf Frankreichs Präsident und Regierung, auf die Sozialisten und auch auf die Medien — kurz, er revoltiert gegen le pouvoir, die Machthabenden. „Im Fernsehen läuft nur noch Propaganda, 80 Prozent Werbung für das Ja. Das ist völlig undemokratisch.“

Tatsächlich dominieren die Befürworter von Maastricht Presse, Funk und Fernsehen. Sowohl in den offiziellen und todlangweiligen Werbespots als auch in echten Interviews, Reportagen und Kommentaren geht das Nein völlig unter. Das bestätigen auch Untersuchungen der staatlichen Medienaufsichtsbehörde. Dennoch erklärt diese, ihre Zahlen ließen „nicht darauf schließen, daß die Information von den Anhängern des Ja monopolisiert ist“. Etwa die Hälfte aller Franzosen, die sich bislang eine Meinung zu Maastricht gebildet haben, sind gegen den Vertrag. Für sie ist die Kampagne nur ein weiterer Beweis für die Arroganz der Mächtigen. „Wir stehen doch unter Dauerbeschuß“, sagt ein älteres Paar im Vorbeigehen. „Gott sei Dank gibt es noch ein paar Politiker, die uns erklären, was dieser Vertrag bedeutet.“

So wie in den Medien das Ja dominiert, so bestimmen vor Ort eindeutig die Anhänger des Nein die Kampagne. Allein das gaullistische Tandem Pasqua-Séguin hat in den vergangenen zwei Wochen 58 Auftritte gegen Maastricht organisiert. Weitere Geschosse gegen das Ja fahren Kommunisten, Rechtsextreme, einige Grüne und eine neue Linke auf, die der Sozialist und Ex-Verteidigungsministers Chévènement um sich zu sammeln sucht. Auch La fête de l'humanité, das alljährliche Fest des Zentralorgans der Kommunistischen Partei (KPF) im Pariser Vorort La Courneuve, wurde an diesem Wochenende von Maastricht beherrscht. Im „Bistro, das Nein zu Maastricht sagt“, kosten die Fritten nur 1,50 Mark. Sie müssen jedoch mit Austern, bretonischen Muscheln, Merguez und Sangria konkurrieren, die „gegen ein Europa der Knete, der Sparpolitik und der Arbeitslosigkeit“ verkauft werden.

Erstmals ist auf dem Fest auch ein dänischer Stand vertreten, der zur Diskussion über Europa einlädt. „Die Leute beglückwünschen uns und wollen die Gründe wissen, die die Dänen zum Nein bewogen haben“, sagt das Paar, das hier die dänische Linke vertritt. „Wir glauben, daß Dänen und Franzosen vor allem ein soziales Nein ausdrücken wollen. Sie haben Angst davor, daß unsere sozialen Errungenschaften wieder abgebaut werden.“

Diese Sorge beschäftigt auch den Polizisten am Stand „Polizei und Nation“. „Der soziale Schutz ist in Gefahr. Wenn Maastricht durchkommt, werden wir in Frankreich demnächst drei bis vier Jahre länger arbeiten müssen, um Rente zu bekommen.“ Deshalb sei das Nein auch bei seinen nicht-kommunistischen Kollegen stark vertreten. „Wenn das Nein nicht durchkommt, dann liegt es nur an der totalen Desinformation in den Medien.“

Daß die Maastricht-Debatte Frankreich so gepackt hat, ist nur dem unermüdlichen Einsatz der Gegner zu verdanken. Sie haben damit für die erste große politische Debatte seit dem sozialistischen Machtwechsel vor elf Jahren gesorgt. Selbst in kleinen Provinzstädten bekommen sie volle Säale. In Le Mans, der Stadt des Schweineschmalzes und der 24stündigen Autorennen, warteten am Donnerstag abend 2.000 Menschen geduldig auf den Abgeordneten, der im Frühjahr mit einer kämpferischen Rede in der Nationalversammlung den Feldzug gegen Maastricht eingeleitet hatte. Seguin verspätet sich, erst um halb zehn beginnt er seine Rede. Ganz anders als der rechtsextreme Demagoge Le Pen, anders auch als der polemische Abgeordnete de Villiers, versucht er nicht etwa ein überzeugtes Publikum aufzupeitschen, sondern richtet sich an die Unentschlossenen.

„Wie Sie sich auch entscheiden werden, Sie müssen es sachkundig tun, denn es geht um Frankreichs Zukunft. Von Ihrer Entscheidung wird alles abhängen“, beginnt er seine Rede. Dann schlägt er den Vertrag auf und liest wie ein Schulmeister den Artikel3b zur Subsidiarität vor, Artikel27 über die Einheitswährung, Artikel104c über Sanktionen im Fall von Haushaltsdefiziten. Die Leute hören ihm anderthalb Stunden lang gebannt zu.

Bei der Abschlußkundgebung im Pariser Zénith jedoch herrscht Siegerlaune. Die 6.000 Menschen hier wollen sich in ihrer Ablehnung des Vertrags bestätigt wissen. Und wer noch Zweifel hat, den reißt die Stimmung mit. Emmanuel hat sich sachkundig gemacht. „Lesen Sie doch nur mal den Artikel 189a“, sagt er und zieht ein abgegriffenes Heft aus der Tasche — es ist der Text des Einigungsvertrags, der in allen französischen Rathäusern verteilt wurde. Seine Freundin Maya hat sich die trockene Lektüre gespart, sie vertraut den Gegnern des Vertrags. „Die meisten Studenten sind für Maastricht. Da wollte ich nicht einfach mitlaufen; deshalb bin ich schon im Sommer zu einer Veranstaltung gegangen. Damals gab es sowas nur von Maastricht-Gegnern. Jetzt bin ich davon überzeugt, daß der Vertrag neu ausgehandelt werden muß. Man muß doch nur an den ganzen Müll denken, der über die Grenzen kommt. Das macht mir Sorgen.“

Ihre Worte werden von Pfeifen, Rasseln und Trompeten übertönt, es geht zu wie auf einem Volksfest. Die Leute sind völlig ausgelassen, sie spüren, daß „sie“ es am Sonntag schaffen könnten. Die letzten Umfragen zeigten, daß das Ja und das Nein wieder fast gleichliegen. Die Wirkung von Mitterrands großem Fernsehauftritt vor zehn Tagen ist verflogen, der Präsident ist in der Kampagne nicht mehr präsent. Zudem nagelt ihn in diesen entscheidenden Tagen auch noch eine Prostata- Operation ans Krankenhausbett.

Hier im Zénith ist die bürgerliche Opposition versammelt. Daß ein Nein zu Maastricht auch eine Abfuhr Mitterrands bedeutet, hebt die Stimmung. „Mitterrand, das ist nicht der Grund für mein Nein“, erklärt eine Apothekerin. „Doch er hat den Vertrag unbedingt gewollt. Und insofern bin ich, indem ich gegen Maastricht bin, auch gegen Mitterrand.“