Sozialer Raum

Die Rotterdamer Doppelausstellung Walker Evans & Dan Graham  ■ Von Jochen Becker

Im Jahr 1966 ersetzte das Arts Magazine kurzerhand einige Fotos in Dan Grahams Bild-Essay „Homes for America“ durch ein 40 Jahre älteres des „Klassikers“ Walker Evans und feierte somit das vierzigjährige Bestehen der Zeitschrift. Im Austausch von vier Fotos manifestiert sich die mehr als nur formale Verwandtschaft zwischen dem „Meister“ der dokumentarischen Fotografie und dem vierzig Jahre jüngeren, unter anderem auch fotografierenden Konzeptualisten. Die von Jean-Francois Chevrier initiierte Rotterdamer Doppelausstellung im Museum Boymans-van Beuningen (Fotografien von Evans) und im Kunstraum Witte de With (Bilder und Installationen von Graham) streicht vor allem die Ähnlichkeit der Sujets — aufgereihte Vorstadthäuser in schuppig-schlichter Holzbauweise, (Innen-)Architekturdetails, Menschen im Umfeld ihrer Häuser — hervor. Völlig vernachlässigt wird jedoch, daß Walker Evans, übrigens ebenso wie Dan Graham, die Arbeit für Zeitschriften der für Ausstellungsräume vorzog.

Das Museum Boymans-van Beuningen zog es vor, die gerahmten Abzüge stupide aufgereiht wie nasse Wäsche an die Museumswände zu hängen. Als Fußnote liegen in der umsichtiger arrangierten Graham- Präsentation alte Zeitschriften mit Evans Arbeiten in den Vitrinen aus. Mit Bilduntertiteln versehen und von Magazintext umgeben, wirken hier Evans Aufnahmen vom alltäglichen Stadtleben umgänglicher; den Schein des Musealen — hochauflösender Abzug statt Druckbild, Isolation vom Kontext und Eingrenzung mittels Rahmung — vertragen sie nicht. „Ich fühle mich im Museum nicht mehr wohl. Ich will ... keine ,vollendete‘ Kunst sehen. Mich interessiert, was man Umgangssprache nennt“, äußerte sich Walker Evans 1971 anläßlich seiner großen Retrospektive im Museum of Modern Art, vier Jahre vor seinem Tod.

Laut Chevrier war Evans unter den amerikanischen Meisterfotografen der „einzige, der sich ganz von der Idee der Natur befreit hat“. Die technische Kultur hat die natürliche Landschaft überwuchert; die Verstädterung löst den Wilden Westen ab. Dan Graham folgte dieser Einsicht und entwickelte konsequenterweise eine sowohl anschauliche als auch konkrete und angewandte Architekturkritik. Die „Heime für Amerika“, gesammelt anläßlich einer Dia-Installation, fand er in den Vorstädten: Auf die grüne Wiese oder ins Brachland gepflanzt, wuchern dort die standardisierten Holzhäuser. Für seinen gleichmäßigen künstlerischen und journalistischen Zeitschriftenbeitrag arbeitete Graham anschließend die Parallelen zwischen Reihenhäusern, nebeneinander abgestellten Container-Trucks, übereinandergestapelten Plastikschalen und der Serialität der Minimal Art heraus. Er kritisiert hierbei eine vergleichbare Arbeitsökonomie in Kunst und Produktion, wo sich selbst genügende Objekte am laufenden Band ausgestoßen werden.

Auf zwei Etagen hängen eine Vielzahl von Grahams meist zwei- oder mehrteiligen Fotoarbeiten aus den sechziger und siebziger Jahren, wobei er Facetten des Modernismus zusammenmontiert. So kombinierte er häufig auf einem Bildträger das Innere und Äußere eines Gebäudes. Die Ansichten sind oftmals so disparat, daß nur der Bildtitel sie zusammenzwingt. Da er stets Diafilm verwendet und zeitweise eine simple Instamatic-Kamera benutzte, verzichtet sein strukturaler Neorealismus bewußt auf Feinheiten. Die Aufnahmen von Häuserreihen, Inneneinrichtungen und Bewohnern wirken in ihrer Fehlfarbigkeit und Teilunschärfe amateurhaft.

Über das Betreiben einer Galerie, die allerdings schon nach einem Jahr pleite ging, machte der Philosophie- Student in den sechziger Jahren persönliche Bekanntschaft mit den wichtigen Vertretern der postexpressiven und intellektualisierten Kunst. Von Anfang an arbeitete Graham programmatisch für Printmedien und bezeichnete seine unprätentiösen „Works for Pages“ als „Wegwerfkunst“. Praktischerweise hat die Rotterdamer Ausstellungsleitung an einem langgestreckten Tisch unzählige Artikel von und über ihn in Kopie ausgelegt.

Zuerst verfaßte Graham noch Aufsätze und Analysen über die Arbeiten der befreundeten Minimal-, Concept- und Land-Künstler, dann entwickelte er eigene. Er nutzt seine am hochentwickelten Formalismus der Minimal Art geschulte Beobachtungsfähigkeit, um der strikten Selbstthematisierung der Kunst eine Erkundung über gesellschaftlich- ökonomische Phänomene entgegenzusetzen. Er bezeichnet seine Montagen von Text und Foto als „In-Formation“. Generell sind seine Arbeiten — ob Bild-Essay oder ausgestellter Gegenentwurf — Kritik in Produktform.

Gegen die zunehmende Esoterik der Avantgarde — man verzog sich ins Museum, konzipierte Bücher für Spezialisten oder buddelte sich in der Wüste ein — setzte er seine Arbeiten in ein urbanes, öffentliches und gegenwärtiges Umfeld. Zeitschriften, Einkaufspassagen, Wohnsiedlungen und städtische Parks werden genauso wie öffentliche Auftritte oder Video- Filme als Medien eingesetzt. Graham greift bei seinen in den siebziger Jahren entwickelten Pavillons (Kuben aus Glas und Metall) auf formale Elemente der weiterhin von ihm geschätzten Minimal Art zurück und reflektiert damit die verspiegelte Herrschaftsarchitektur der Wolkenkratzer und die überbaute künstliche Natur in den Vorhallen der Konzernspitzen („Corporate Arcadias“ lautet der Titel seines Artforum-Essays über die Privatisierung des öffentlichen Raums).

Im Witte de With erinnert ein 1986 konzipiertes „Interior Design for Space Showing Videotapes“ an diese Arbeiten. Man fühlt sich bei den Kabinen geborgen, und zugleich spiegeln sich die übrigen Besucher und Betrachter, aber auch der umgebende Raum in den Scheiben wider. Als Betrachter der Interviews und Videos von Graham oder der Stadtarchitektur in den Filmen von Godard und Antonioni versinkt man in den weichen Kissen am Boden und wird essentieller Teil der ansonsten leeren Arbeit. Man will gar nicht mehr aufstehen — auch, weil die Kissen nachgeben und man bei den anderen Betrachtern beobachten kann, wie obskur sie sich aus den Kissen herauswinden. Je nach Belieben wechselt man die Bänder aus, folgt Grahams essayistischen Vergleich „Rock my Religion“ zwischen der Musik von Patty Smith und der indianischen Urbevölkerung oder sieht frühe Punk- und Artrock-Konzerte im CBGB's.

Bis zum 11. Oktober in Rotterdam, dann in Marseille; vom 31. Januar bis zum 21. März 1993 im Westfälischen Landesmuseum in Münster, und zum Jahreswechsel 93/94 noch im Whitney Museum in New York