Claudio Magris: Schicksalhafte Dummheit

■ In Jugoslawien tritt die Geschichte über die Ufer

In Kozarišče, in Slowenien, steht ein Schloß, das, im Gegensatz zu so vielen anderen, im Zweiten Weltkrieg weder zerstört noch niedergebrannt worden ist. Das ist dem Verwalter Leon Sauta zu verdanken, der es im Dienst des Fürsten Schönburg- Waldenburg, dem es bis zur Verstaatlichung 1945 gehörte, bewirtschaftete. Als im Krieg die jeweiligen Sieger kamen, die es in ihren Besitz gebracht hatten und es den Flammen übergeben wollten, erklärte er ihnen, daß nun sie die neuen Schloßherren seien, daß es also ihr Eigentum sei und bleiben würde und daß es demzufolge töricht und selbstschädigend wäre, es zu zerstören. Das sagte er den Italienern, den Deutschen und den Partisanen, und diese schlichte, akkurate Argumentation überzeugte jeweils Besatzer und Befreier, was beweist, daß grammatische Logik und Analyse — sofern man etwas mehr Vertrauen in sie setzte — viele Trümmer vermeiden könnten. Die Welt wäre ein wenig unversehrter, wenn man lernte, sie zu hegen und zu pflegen, wie man es mit dem eigenen Besitz tut, und die Dinge ringsumher als ein gemeinsames — und somit auch eigenes — Gut anzusehen: die Bäume und Häuser, die Straßen, die Farben einer Jahreszeit.

Leon Sauta hätte vielen Menschen vieles zu sagen und heute vor allem jenen Ex-Jugoslawen, die sich zerstören, die rasend und von Sinnen die Städte dem Erdboden gleichmachen und Kehlen durchschneiden, womit sie die unglaublichen Greueltaten von vor fünfzig Jahren wiederholen, ohne in diesem grausamsten aller Bruderkriege zu bedenken, daß das Leben, das sie gerade vernichten, immerhin ihr eigenes ist. In einem wunderschönen Essay — unerbittlich gegenüber der serbischen Führungsschicht, der die Hauptverantwortung für diese unsinnige Tragödie zukommt, aber auch voll herber Kritik an einigen politischen Tendenzen und Kräften Kroatiens sowie an der allgemeinen Regression ganz (Ex-)Jugoslawiens — skizziert Dragan Velikić eine erbarmungslose Parabel der zunehmenden Verfälschung, die derzeit viele Menschen in Jugoslawien dazu bringt, „die Serben zu hassen, oder die Kroaten; mit anderen Worten, sich selber zehn Jahre früher.“

Haß gegen die eigenen Leute von einst. Ich bin in Triest geboren und aufgewachsen, auf einer Grenze, an einem Ort, der zuweilen ein Juwel ist, weil er Gelegenheit bietet, den vielschichtigen und vermischten Charakter einer jeden Identität zu entdecken; der manchmal aber auch ein Fluch ist, weil er die fixe Idee von einer reinen Identität nahelegt, die sich von einigen lebenswichtigen Komponenten trennt wie ein Wesen, das Teile seines Körpers verstümmelt, da es sie als fremd empfindet, so daß es sich auf diese Weise schließlich selbst zerstört.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schien es unter den Slawen — trotz der überlieferten Haßgefühle und Ressentiments — das Gefühl einer jugoslawischen Einheit zu geben. Sie schienen noch nicht — oder noch nicht wieder — zu glauben, daß Slowene oder Kroate oder Serbe und Jugoslawe zu sein, einen Widerspruch darstellte, den es gar durch Blutvergießen zu lösen galt; und auch wenn sie der Partei gleichgültig oder feindlich gegenüberstanden, schienen sie doch stolz auf den roten Stern, der ihnen staatliche Würde und, für einige Jahre, ein unbestreitbares internationales Ansehen beschieden hatte.

Natürlich verurteilt Velikić die vom Titoismus durch eine ebenfalls düstere Geschichtsfälschung aufgezwungene Pseudo-Einheit. Nach der ruhmreichen Zeit des Widerstandes, die außergewöhnliche Leistungen in bezug auf Mut und politische Organisation hervorgebracht hatte, war die Führungsschicht der Partisanen trotz der unleugbar fortschrittlichen Einführung von Freiheiten, die anderen kommunistischen Regimes fremd waren, zu einer insgesamt mittelmäßigen und parasitären Nomenklatura geworden; einer Nomenklatura, die sich unter dem Schutz des genialen Marschalls Tito und dessen Lügenmärchen nach Art des Barons von Münchhausen lange Zeit künstlich selber überlebte. Doch dies macht das blutige Scheitern von Titos Versuch einer Staatsgründung nicht weniger tragisch und nicht weniger verheerend. Nachdem die schwierigste Zeit der Auseinandersetzung zwischen Italienern und Slawen an meiner Grenze in Triest vorüber war, hatte ein Dialog begonnen und sich über die Jahre weiterentwickelt, der trotz beiderseitiger Probleme, die keineswegs je gelöst worden waren, den Wert der vermischten und vielschichtigen Welten wieder zum Vorschein kommen ließ, so zum Beispiel der slawischen und venezianischen an der Adria mit ihren österreichisch-deutschen, ungarischen und noch anderen Komponenten. Unsere Identität besteht aus diesem Dialog. Deshalb spielt sich die jugoslawische Tragödie auch nicht nur vor meiner Haustür ab, sondern sie ist darüber hinaus eine Verstümmelung meiner Welt, sie entreißt mir ein Stück meiner Realität.

Vor einem Jahr, während des kurzen Krieges in Slowenien, sah ich von den Ufern Triests aus, über den Golf hinweg, jenseits der Grenze die venezianische Kirche von Piran in Istrien oder vom oberen Rand des Karsts aus die Dörfer am Fluß des Nanos oder die Spitze des Nevoso, und der Gedanke, daß diese Orte für mich plötzlich schwer zu erreichen seien, war so absurd, als wohnte man beispielsweise in Turin und könnte auf einmal nicht mehr den Po überqueren und seine Freunde besuchen, die auf dem Hügel zu Hause sind. Es sind dies Schlüsselorte meines Lebens, die meine Lebensart und meine Gefühlswelt geprägt haben, Orte, die in das tägliche Leben integriert sind, die an lebensnotwendige Beziehungen zu Menschen geknüpft sind, die konkreter Bestandteil meines Alltags sind. Diese schlagartig geschlossene Grenze zerteilte mich, trennte mich von mir selber. Inzwischen hat man diese Grenze wieder geöffnet, denn der kleine Krieg in Slowenien, der nicht mit den aktuellen Schrecken des Krieges in Bosnien verglichen werden kann und auch nicht mit der Gefahr, daß dieser Feindseligkeiten unvorhersehbaren Ausmaßes auslösen könnte, ist vorbei. Aber noch immer fühle ich mich halb im Exil, denn ich habe einen Teil meiner Welt verloren. Die Grenze, die Slowenien und Kroatien trennt, teilt beispielsweise Istrien von der italienischen Minderheit, teilt bisweilen ein und dasselbe Dorf in zwei Teile und zerreißt dabei konkret die Realität der Menschen. Istrien, das vor zwei, drei Jahren das frühlingshafte Wiederaufblühen des Dialogs zwischen den kroatischen, slowenischen und italienischen Volksgruppen erlebte, ist nun erneut wiederaufkeimenden nationalistischen Tendenzen ausgesetzt.

Auch in diesem Fall handelt es sich um Risse, die ebenso durch meinen Körper gehen; jene Schranken und Grenzstreifen sind Wunden und Narben. All dies ist natürlich nichts im Vergleich zu dem, was in Vukovar, in Osijek, in Sarajevo geschehen ist und geschieht, zu den Schrecken, von denen wir tagtäglich in Wort und Bild erfahren — Schrecken, die Europas Sensibilität offenbar wenig anrühren, wahrscheinlich, weil die Opfer nicht die Kraft haben, sich nachdrücklich Gehör zu verschaffen, und weil ihre Tragödie nicht genügend Beweggründe bietet, um Europa zu einer realen Hilfe zu veranlassen, mit der dazu nötigen Energie, die aufzubringen Europa sich jedoch schändlicherweise als unfähig erweist. Vielleicht ist es zu spät. Vor einem Jahr hätte man, wenn man mutig genug gewesen wäre, ohne zögerliche Vorbehalte und mit dem gebotenen Kraftaufwand eingreifen, die Spirale der Gewalt aufhalten können, bevor sie ein Ausmaß erreichte, das, um wirksam bekämpft werden zu können, wesentlich härtere und somit nicht nur beunruhigende, sondern sogar heikle Eingriffe erforderlich macht. Das Geschwür, das in Jugoslawien aufgebrochen ist, schwelt in vielen Teilen Europas, wenn auch zum Glück in lange (noch?) nicht so brutalen Formen. Das zweite Halbjahr 1989 brachte nicht nur den Kollaps des Kommunismus, sondern ein tiefergehendes Erdbeben, das zahlreiche Kategorien und Aspekte der modernen Zeit in einem archaischen Strudel zu verschlingen scheint, während es viel angestaute Wut und viele Überreste einer oftmals barbarischen und regressiven Vergangenheit, die für immer begraben schien, wieder an die Oberfläche schleudert.

Die Spannungen zwischen Tschechen und Slowaken oder die deutsche Expansion rühren an alte Probleme und Wunden, die man endgültig zu den Akten gelegt glaubte; Litauen, das gegen die etwaige Rückgabe Ostpreußens an Deutschland protestiert, beschwört das Gespenst künftiger Korridore, wie zum Beispiel des Danziger, als Vorboten von Konflikten, herauf; die innerstaatlichen nationalen Auseinandersetzungen in Europa, die bis vor kurzem lächerliche Hinrgespinste waren, die keinerlei Beachtung verdienten, erscheinen nicht mehr so unwahrscheinlich, und es herrscht nach dem Alptraum eines Weltkrieges, der (zumindest in Europa) jeden weiteren verhinderte, hier und da eine unklare Bereitschaft, die Fäuste zu ballen. Wie 1914 mit Sarajevo ist Jugoslawien ein Epizentrum dieses Bebens; aus den klaffenden Rissen der Häuser und ehrwürdigen Monumente, die von den verheerenden Bomben getroffen sind, sickert mit dem Blut auch der trübe unterirdische Fluß der verdrängten Geschichte, die über die Ufer tritt.

Zweifellos befinden wir uns, trotz der gegenwärtigen Suche nach neuen Verbindungen, wie etwa der europäischen Einheit, und trotz der Homogenisierung von Gewohnheiten, die zunehmend breitere Massen einbezieht, an der Schwelle zur Epoche eines mittelalterlichen Partikularismus, einer Auflösung der großen politischen und kulturellen Einheiten. Die großen Staatsgefüge weisen nahezu überall Risse auf und neigen dazu, sich in einem Prozeß wilder Atomisierung in immer kleinere Einheiten aufzuspalten: von der Nation zur Region und zur Kommune.

Dieser Vorgang, den man zur Kenntnis nehmen muß, ist regressiv und kann barbarische Züge annehmen. Die Zivilisation ist bedroht, wenn eine tyrannische Macht eine Angleichung befiehlt, die die Vielfalt des Lebens mit Füßen tritt, doch ist sie ebenso bedroht, wenn blinde Spontaneität die Oberhand über das Bewußtsein der gemeinsamen menschlichen Universalität gewinnt, wenn der heimatliche Dialekt nicht der liebevolle Ausdruck der eigenen, für die Begegnung mit dem anderen offenen Realität ist, sondern das Knurren des angeketteten Hundes, der den Passanten verjagt. Zivilisation bedeutet Aggregation; es kann eine edle Gesinnung in dem wohnen, der sich, von der Absurdität des Lebens und einer jeden Gesellschaft begreiflicherweise entsetzt, in die Einsamkeit zurückzieht und ein anonymes, leeres Zimmer den Versammlungen und Vereinen vorzieht; doch wohnt nichts als vertierte Roheit in dem, der die Sportfans aus einem anderen Stadtteil beschimpft. Es ist besser, von Trajan regiert zu werden als von einem feudalistischen Minisatrapen.

Die Besonderheit, schrieb Predag Matvejević, ist noch kein Wert; sie kann, richtig verstanden, die Voraussetzung eines Wertes sein. In den kommenden Jahren wird jedoch allerorten das Feuer des Partikularismus aufflammen, und wir, die wir an die Grenze als Dialog und an die Überwindung der nationalen Konflikte geglaubt haben, während wir meinten, im Namen der Zukunft gegen den blutigen Spuk der Vergangenheit anzureden, werden — zumindest eine Zeitlang — plötzlich von den Ereignissen aus dem Feld geschlagen sein und in die Vergangenheit zurückgedrängt werden, pathetische, antiquierte Überbleibsel von Idealen, die vergessen und überholt sein werden.

Es kann gewiß nicht darum gehen, Meinungen und Gefühle zu ändern; aber um die Werte, an die wir glauben, besser verteidigen zu können, müssen wir uns an ihre derzeitige Schwäche gewöhnen, müssen wir uns auf die Bitternis und die Niederlage einstellen, der wir entgegengehen und ihre Zeit dauern wird. Vielleicht werden wir, wie einige Liberale und Demokraten bei der Machtergreifung des Faschismus, verschiedene Leidenschaften und Aspekte der anbrechenden Epoche nicht begreifen können und die Schuld dieser Unfähigkeit, die immer auch Unfruchtbarkeit ist, in kafkaesker Manier tragen müssen. Tragödien machen dumm, weil sie dumm sind: Nur in der Komödie, in der Fähigkeit, zu lachen und glücklich zu sein, kommt die Intelligenz zur Entfaltung — nicht umsonst sind Lachen und Glückseligkeit oder auch nur heitere Unbeschwertheit — so selten. Dummheit jedoch ist ein Schicksal der Epoche, das niemanden verschont, auch den nicht, der versucht, sie nach Kräften zu bekämpfen. Nach dem, was in Jugoslawien geschehen ist und noch geschieht — gleichsam als Beweis dafür, daß auch die schrecklichsten Lektionen der Geschichte wie etwa der Zweite Weltkrieg zwecklos sind und gar nichts lehren —, ist die gesamte Menschheit dümmer geworden.

Aus dem Italienischen von Karin Krieger