Der Kanal ist noch lange nicht voll

Galoppierende Inflation neuer Fernsehprogramme/ „erste Reihe“ hat zu lange vor sich hingedöst  ■ Von Ulla Küspert

Längst kann sich, wer will, zu jeder Tages- und Nachtzeit am Fernsehflimmern berauschen. 27 Programme buhlen um die höchste Einschlafquote. Nicht mitgerechnet die hier einstrahlenden Sender europäischer Nachbarn und TV-Darbietungen wie „Sky One“, „Discovery“, „Children's Channel“, „Teleclub“, „Filmnet“ oder „Sky News“, die ausschließlich über Satellit verbreitet werden. Zwei Fernsehnovitäten, der Münchner „Pro7“-Ableger „Kabelkanal“ und das kulturlastige deutsch-französische TV-Konstrukt „arte“, wurden uns in diesem Jahr noch zusätzlich auf die Mattscheibe geschickt. Demnächst drängen mit „RTL2“, „VOX“ und „n-tv“ drei weitere (Kommerz-)Kanäle in die Flimmerkiste.

Am 1.Oktober starten außerdem SFB, MDR und ORB ihr gemeinsames Kombi-Projekt „B1“, das die Intendanten Günther von Lojewski (SFB) und Udo Reiter (MDR) in Leipzig vorstellten: von 10 Uhr morgens bis 18.30 Uhr als Kooperation, ähnlich dem gemeimsamen ARD/ ZDF-Vormittagsprogramm, am Abend dann als echtes, neues „Drittes“.

Weitere Programmanbieter sitzen längst in den Startlöchern: So der paneuropäische Nachrichtenkanal „Euronews“ — ein ambitioniertes, aber werbefinanziertes Projekt von elf öffentlich-rechtlichen und staatlichen Sendern, das in fünf Sprachen ausgestrahlt werden soll, und „Viva“ als deutsche Reaktion auf das hochstilisierte angloamerikanische Betäubungsmittel MTV.

Hinter dem teutonischen Pop-Marathon, das vom Düsseldorfer Staatssekretär und Ex-Chefredakteur der Hamburger Morgenpost, Wolfgang Clement (SPD), protegiert wird, steckt ein Sextett bekannter Matadoren des Videoclip-Geschäfts, darunter Michael Oplesch von der ehrgeizigen Hamburger Video Art Production (VAP), die mit der Hamburgischen Anstalt für Neue Medien (HAM) wegen der begehrten terrestrischen Frequenz von Kanal34 (die in Hamburg einstweilen Tele5 zugesprochen wurde) im Gerichtsclinch liegt.

Hinter der auflaufenden Fernsehflut steckt ein gnadenloser Medienpoker um Lizenzen und Frequenzen, Zuschauerzahlen, Vermarktung und Werbemillionen. Denn Fernsehen als Markt boomt. Mit der Zunahme der Programme wird, wie die Daueranalysen der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung GfK zeigen, in West wie Ost — trotz Dutzendware auf allen Kanälen — auch immer länger ferngesehen, besonders in reinen Satelliten-/Kabelhaushalten. Das stimuliert das TV-Werbegeschäft — 1990 auf ein Volumen von 3,75 Milliarden Mark, in diesem Jahr könnten es gar sechs Milliarden werden.

Weil die öffentlich-rechtlichen Anstalten ARD und ZDF viel zu lange vor sich hindösten, fürchten sie jetzt ernsthaft um ihren Platz in der ersten Reihe: Die ehemaligen Monopolisten erreichen, so die GfK, nur noch jeweils knappe 24 Prozent der rund 30 Millionen TV-Haushalte — Tendenz: fallend. Neidisch registrieren sie, wie die private Konkurrenz von der fetten Werbetorte bereits gute 55 Prozent absahnt. ARD- Chef Friedrich Nowottny: „Wir können nicht mit großen Augen zuschauen, wie die Kassen bei den Privaten klingeln und bei uns schrumpfen.“ Was den ARD-Gewaltigen dazu einfällt, ist wenig originell. Unfähig zu echter Innovation, flüchten sie sich in die Methoden der gefürchteten Konkurrenz: Ideenklau und Preiskrieg. So wird Frühstücksfernsehen inzwischen auch öffentlich- rechtlich serviert, gesponsert von einer bekannten niedersächsischen Keksmarke und der reichsten deutschen Lebensmittelkette. Ebenso droht uns eine tägliche, öffentlich- rechtliche, deutsche Endlos-Telenovela. Und überhaupt schäumen Seifenopern demnächst ab halb sechs Uhr nachmittags synchron auf sämtlichen ARD-Sendern (die sogenannte „Vorabendharmonisierung“), nur damit zusätzliche Werbezeiten bundesweit versilbert werden können.

Gleichzeitig lockt die ARD jetzt mit einer drastischen Preissenkung für TV-Spots um fast ein Drittel (32,5 Prozent) Kunden an, was sie nach eigener Schätzung rund 20 Millionen kostet. Damit zwang sie den Nachbarn in der „ersten Reihe“ ebenfalls zum Verzicht: Das ZDF verkündete soeben einen Abschlag seiner Werbezeitenpreise um rund zehn Prozent — nachdem der ärgste Konkurrent unter den Privaten, Spitzenverdiener RTLplus, seine Werbepreise gerade siegesgewiß um diesen Satz erhöht hatte. Gleich nach Bekanntgabe der öffentlich-rechtlichen Billigtarife schockte der Kölner Kommerzsender die Konkurrenz dann erneut: mit ausgeklügelten Rabattstaffeln für TV-Spots auf seiner neuen Spielwiese „RTL2“. Absoluter Preisknüller während der auf ein Jahr ausgedehnten Einführungsphase: 30 Sekunden für 300 Mark.

Die öffentlich-rechtliche Dumping-Politik hat, jedenfalls bei der ARD, weitergehende inhaltliche Folgen, die die renommierten Dritten Programme schmerzlich treffen: Sie werden auf Regionalkanal umgeschminkt. Jürgen Kellermeier, NDR-Programmdirektor treuherzig: „Damit ergänzt N3 das ARD- Programm, das zwischen 18 und 20Uhr eher auf Unterhaltung setzt.“ Indem die Dritten die aus dem Ersten weggeschäumten lokalen Nachrichten-, Sport- und Magazin-Sendungen aufnehmen müssen, kann die ARD weiterhin beteuern, die ihr staatsvertraglich auferlegte „Grundversorgung“ zu leisten. Für die kassiert sie immerhin jährlich 6,15 Milliarden Mark Gebühren nebenbei.