: Walter Benjamins Erbschaft
■ "Gegen Betteln" (Städtetag empfiehlt: Gebt Flüchtlingen kein Geld), taz vom 5.9.92
betr.: „Gegen Betteln“ (Städtetag empfiehlt: Gebt Flüchtlingen kein Geld), taz vom 5.9.92
Und wann empfiehlt der Niedersächsische Städtetag die öffentliche Entfernung der aggressiven Kunst etwa eines Otto Dix? Hatte er sich nicht auch als ein bettelnder Streichholzhändler dargestellt, einzig Erkenntnis anbietend? Das Bild „Der Streichholzhändler“ prangert an: Fluchtartig meidet das Bürgertum das verkrüppelte Opfer des Bürgerkrieges — nur wer selbst in einem Kunstwerk den Blick in die Gosse meidet, übersieht diesen Hinweis. Noch reizt die Herren dieses Verbandes das zum bildungsbürgerlichen Kulturgut entwürdigte und totgestellte Bildnis nicht zu den Konsequenzen, die ihre ratschlagende Gesinnung doch nahelegt. Da müssen schon lebendige Opfer die Hand ausstrecken, damit diese Herren im Rundumschlag das Gesuch um lebensspendende Hilfe um so dreister ausschlagen können.
Es ist die Schlagfertigkeit ihrer Reaktion, mit der sie ihre Flüchtlingsdebatte ausfechten, die Schlimmstes befürchten läßt. Wie würden sie wohl auf folgende Sätze reagieren: „Den Bettler ehrten alle Religionen hoch. Denn er belegt, daß Geist und Grundsatz, Konsequenzen und Prinzip in einer so nüchternen und banalen als heiligen und lebensspendenden Sache, wie das Almosengeben es war, schmählich versagen.“ Etwa mit dem Einwurf, der Autor dieser Zeilen sei ja selbst Asylsuchender gewesen, und deshalb brauche mensch da nicht hinzuhören? Immerhin, der Bundespräsident wollte ihm ein Denkmal setzen. Wenngleich der würdevolle Weihe- Gedeihe-Jargon eines Richard von Weizsäcker das Denken, insbesondere sein Denken, nicht befördert, so hat uns Walter Benjamin, der als Flüchtling Selbstmord beging, weil Hilfe ihm verwehrt wurde, schließlich eine Erbschaft hinterlassen, die der unsäglichen Gesittung, wie sie der Niedersächsische Städtetag jetzt todeswütig herausschreit, doch endlich Einhalt gebieten möchte. Auf einer Reise schrieb er: „Der Bettel ist nicht aggressiv wie im Süden, wo die Aufdringlichkeit des Zerlumpten noch immer einen Rest von Vitalität verrät.“ Georg Lengers, Münster
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