Sozialdemokratie am Ende der Ära Brandt

Der Kongreß der Sozialistischen Internationale wählt den Nachfolger/ Einziger Kandidat ist der Franzose Pierre Mauroy/ Osteuropäische und afrikanische Parteien hoffen auf Mitgliedschaft  ■ Aus Berlin Dorothea Hahn

Die Welt wandelt sich — und die Sozialdemokratie läuft mit. Drei Tage lang wollen die Spitzen der Zweiten Internationale von heute an im Berliner Reichstag die Weltlage und den Zustand ihrer Bewegung erörtern. Auf der Tagesordnung stehen neben der Analyse der aktuellen internationalen Entwicklung Diskussionen über Weltwirtschaft, Umwelt, Menschenrechte und die Wahl eines Nachfolgers für Willy Brandt. Die Sozialistische Internationale (SI) wird in Berlin auch darüber entscheiden, wie viele neue Mitglieder sie aufnimmt; Dutzende von Parteien stehen bereits in der Warteschleife.

Nie seit ihrer Neugründung im Jahr 1951 war die SI so begehrt wie heute. In allen Mittel- und Osteuropäischen Ländern, aber auch in Ländern Schwarzafrikas, die ein Mehrparteiensystem diskutieren, haben sich eine, oft auch mehrere konkurrierende sozialdemokratische Organisationen gegründet. Sie alle drängen unter das Dach der Organisation. Bislang zählt sie 88 Mitgliedsparteien, von denen die überwiegende Mehrheit aus Westeuropa und Lateinamerika stammen. Im gesamten europäischen Osten hat die SI bisher nur sechs Mitglieder — zwei sozialdemokratische Parteien in der CSFR, eine in jedem baltischen Land sowie eine in Bulgarien. In Schwarzafrika gibt es nur zwei Mitglieder — die Sozialistische Partei Senegals sowie die Fortschrittliche Front von Obervolta (Burkina Faso). Bislang hat die SI die demokratische Tauglichkeit sowie die sozialdemokratische Orientierung der Bewerberinnen geprüft. Rund 20 Parteien könnten in Berlin zu Vollmitgliedern gekürt werden, meinte gestern der Chilene Luis Ayala, Generalsekretär der SI.

Die Einrichtung eines Sonderausschusses zu Mittel- und Osteuropa, so wie sie die SI auch zu zahlreichen anderen Weltregionen organisiert hat, ist nicht geplant, sagte Ayala gestern. Vielmehr sollten sich die neuen Mitglieder auf allen Ebenen der SI beteiligen. Ebenfalls nicht auf der Tagesordnung des Kongresses stehen die Themen „Fremdenhaß“ und „Nationalismus“. „Es ist nicht alles rosig in den letzten Jahren. Es gibt auch neue Probleme, denen wir uns stellen müssen“, meinte Ayala gestern. Das Thema „Fremdenhaß“ werde unweigerlich debattiert werden.

Den Andrang bei der Zweiten Internationale bezeichnete Ayala als einen Verdienst Willy Brandts. Denn der habe sich als Präsident stets dafür eingesetzt, die SI über die europäischen Grenzen hinaus zu vergrößern. Obwohl Brandt, der 16 Jahre lang an der Spitze der SI stand, seine Teilnahme an dem Kongreß aus gesundheitlichen Gründen abgesagt hat, werden sein Name und seine Verdienste wohl im Mittelpunkt der Debatte stehen. Gestern sprachen SozialdemokratInnen in Berlin bereits in Vergangenheitsform von dem schwerkranken 79jährigen, dem die meisten SI-Mitglieder eine weitere Amtszeit gewünscht hätten.

Einziger Kandidat für die Nachfolge Brandts ist der Franzose Pierre Mauroy. Auf diesen Fingerzeig einigten sich bereits im März mehrere Parteichefs bei einem Treffen in Madrid. Mauroy war der erste sozialistische Premierminister unter Mitterrand. In seiner Amtszeit wagte die französische PS einige radikale Reformen, darunter auch die später wieder zurückgenommene Verstaatlichung von 11 großen Unternehmensgruppen und Großbanken sowie die Abschaffung der Todesstrafe. Nach seinem Rücktritt im Jahr 1984 übernahmen Technokraten wie Fabius und Beregovoy das Ruder.

Die Hoffnung so mancher SozialistIn, daß eine Frau und/oder einE VertreterIn der Dritten Welt an die Spitze der SI gelangt, wird wohl auch bei dem Berliner Kongreß nicht in Erfüllung gehen. Dabei hatte die Sozialistische Frauen-Internationale, die sich am Wochenende zu ihrem Kongreß in Berlin traf, auch die weltweite Zunahme des Sexismus beklagt. In ihrer Abschlußerklärung warnte sie vor „wachsenden religiösen fundamentalistischen Tendenzen“.