DER GIPFEL DER ZIVILISATION Von Andrea Böhm

Das muß er sein — der Gipfel der Zivilisation. Man hat den Fahrstuhl erfunden, die Dienstleistungsgesellschaft, den Bürostuhl, das Junk food — und als Nebenprodukt Haltungsschäden und die rapide Verengung der Herzkranzgefäße. Anstatt die Fahrstühle wieder abzuschaffen und die Treppenhäuser zu öffnen, erschuf man das Fitneßstudio und den Stepper. Da treten und transpirieren sie nun auf einer Maschine mit zwei Fußpedalen— der Steueranwalt, die PR-Managerin und der drahtige Assistent von Senator XY.

Das muß er tatsächlich sein — der Gipfel der Zivilisation. Man arbeitet nicht mehr Akkord am Fließband, sondern läuft sich auf demselben jene Kalorien ab, die man auf der Rolltreppe im vollklimatisierten Einkaufszentrum nicht mehr verliert.

Dies ist das Zeitalter der Fitneßdiktatur in den USA, und seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion belegen Cholesterol, Nikotin und Körperfett endgültig die vordersten Ränge in der Hitliste der Landesfeinde. Vormittags sitzen Hausfrauen, Rentner und Arbeitslose vor dem Fernseher und turnen ein paar geölten und gefönten Bodybuildern hinterher, die am Strand von Hawaii das „low-intensity-aerobics“-Programm vorführen. Jede Firma, die etwas auf sich hält, gibt Anreize, das Rauchen aufzugeben und überflüssige Pfunde abzubauen, oder zeigt in der Mittagspause Jane-Fonda-Videos. Die Frau hat gerade eine beachtliche Filmkarriere in den Wind geschossen, um sich ganz ihrer Aerobic-Mission und der Straffung der nationalen Oberschenkelmuskulatur zu widmen. All das mit einem inoperablen Lächeln im Gesicht.

Wer zum Frühstück nicht mindestens fünf verschiedene zuckerfreie, salzlose, cholesterol- und fettarme und geschmacksfreie Müslifälschungen im Schrank hat, den würde Jane Fonda am liebsten in Quarantäne stecken. In solchen Kreisen zu rauchen, käme dem Coming-out eines Schwulen in einer Fundamentalistenkirche gleich. Die einzigen, die von diesem Zirkus unbeeindruckt bleiben, sind die sogenannten „blue collar workers“ oder Handarbeiter. Wer abends seine Schicht auf dem Bau, in der Fabrik oder im Krankenhaus abgerissen hat, der hat nicht das leiseste Bedürfnis nach einem Laufband oder Fahrradsimulator, sondern nach einem Sechserpack Bier und einer Packung Zigaretten.

Allerdings gibt es nur noch einen Bundesstaat, in dem dieses Verhalten anerkannt wird: Nevada, eine der ungesündesten Regionen des Landes. Nichtraucherecken in den Casinos von Las Vegas haben sich bislang nicht als umsatzfördernd erwiesen, und ohne Saufen macht das Gewinnen keinen Spaß — und das Verlieren noch viel weniger. Mit einer Bloody Mary wacht es sich morgens im Hotel leichter auf als mit Kaffee. Außerdem ist Kaffee ungesund.

Donald Kwalick, Leiter der Gesundheitsbehörde in Nevada, fühlt sich hier jedenfalls etwas fehl am Platze, zumal seine Bürger jede gutgemeinte Aufklärung über Lungenkrebs, Leberzirrhose oder Herzinfarkt als Einmischung in die eigenen Angelegenheiten ablehnen. Manchmal träumt Kwalick von einem neuen Job gleich nebenan: in Utah. Was den Gesundheitsjunkies in New York oder Washington der Gewichtraum, ist 65 Prozent der Bürger Utahs die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“ — bekannt unter dem Namen Mormonen. Alkohol und Zigaretten sind tabu, und am gesündesten leben dort die Männer — auf Kosten der Frauen.