documenta 9 — Spot 10

■ Zoe Leonard — neuzeitlich radikale Nacktheit

Spot ist eine Serie der taz zu einzelnen Arbeiten oder Künstler(inne)n auf der documenta 9 in Kassel. Bis zum 20. September

Die Neue Galerie ist der Ort der documenta, an dem neue und alte Kunst aufeinandertreffen. Joseph Kosuth, Haim Steinbach oder Angela Grauerholz, sie alle haben sich des Vorhandenen auf verschiedene Weise bemächtigt. Doch nur die Amerikanerin Zoe Leonard ist auf die vorgefundene Kunst wirklich im einzelnen eingegangen. Zwischen den Rokoko- Porträts der kurhessischen Fürstinnen hängen — über fünf Räume verteilt — annähernd zwanzig Schwarzweißphotographien von weiblichen Genitalien. Die knapp DINA4-formatigen Bildausschnitte zeigen kaum mehr als eine den BetrachterInnen entgegengestreckte Vagina samt Schamhaaren. Eher zu ahnen denn zu sehen sind der Poansatz, die gespreizten Schenkel. Manch eineR mag sich bei dem Versuch ertappen, den Abbildungen fiktive Persönlichkeiten zuordnen zu wollen. Erregung werden die wenigsten verspüren, dafür präsentiert Leonard die Scheiden zu nüchtern und teilnahmslos, zu sehr als anatomische Tatsache. Respektvoll hält man Abstand. Pornographisch, das heißt sex in action sind die Bilder nicht. Ihre Kraft schöpfen sie aus der Kombination mit den gut zwei Jahrhunderte alten höfischen Gemälden: hier die in ihre Rolle als Frau buchstäblich eingeschnürten Damen vom Hofe, dort neuzeitlich radikale Nacktheit, nicht geschönt und selbstbewußt. Der harte Kontrast formuliert den Anspruch auf weibliche Selbstbestimmung, das Recht auf das eigene Geschlechtsteil. Diese Gegenüberstellung läßt die Photographien Leonards Anklage erheben gegen die beherrschende Rolle sexueller Normen, die sich zurückführen lassen auf den abgebildeten Unterschied. Einerseits bedingt er angeblich das geschürte Wohlverhalten, das andererseits Frauen daran hindert, in Kunst und Gesellschaft anerkannt zu sein.

Politische Kunst kennt zwei Wege, Wirkung zu erzielen: den Schock oder einen unterschwelligen, fast unmerklichen Eingriff in die alltägliche Wahrnehmung. Leonard hat sich für den Schock entschieden. Und zwar in vervielfachter Form. Aber die Wiederholungen beschwören Abnutzungserscheinungen herauf. Sie sind in ihrer gleichförmigen Wiederkehr sicher auch die Einforderung der Normalität. Das Beharren darauf, daß die Frau existiert. Doch von Raum zu Raum steigern sich die Reibungsverluste. Übrig bleibt etwas vom Wert eines agitatorischen Thesenpapiers.

Ulrich Clewing